Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

140 Nas Neutsche Reich und seine eintelnen Glieder. (Dezember 6./15.) 
ich glaube, daß das japanische Volk, das sich durch Tapferkeit und durch 
Intelligenz seinen Platz unter den Großmächten erobert hat, bestrebt sein 
wird, diese Stellung durch eine vertrauenerweckende Politik zu festigen 
und zu sichern. Daß durch den neuen japanisch-englischen Vertrag unsere 
Stellung in Ostasien berührt werden sollte, ist bisher nicht anzunehmen. 
Natürlich kommt es auf den Geist an, in dem dieser Vertrag ausgelegt 
und ausgeführt werden wird. Sein Wortlaut steht in keinem Widerspruch 
zu den Zielen, die wir selbst in Ostasien verfolgen. Wir haben in Ost- 
asien nie etwas anderes angestrebt als die offene Tür für unseren Handel, 
für unsere Industrie. Und weil wir die offene Tür in diesem Sinne 
wollen, sind wir für die möglichste Sicherung des Friedens und für die 
Aufrechterhaltung der Integrität und der Unabhängigkeit von China. Das 
waren, das bleiben die Ziele unserer ostasiatischen Politik. Damit sind 
die Zwecke des japanisch-englischen Bündnisses, wie sie öffentlich anfang 
November Lord Lansdowne skizziert hat, wohl zu vereinbaren. Insbeson- 
dere haben wir nie einem Zweifel darüber Raum gelassen, daß wir in 
Schantung nur wirtschaftliche Ziele verfolgen. In Uebereinstimmung mit 
dieser unserer allgemeinen ostasiatischen Politik ist die Zurückziehung unseres 
Kontingents aus Tschili in dem Augenblick in Angriff genommen, den wir 
immer als den geeigneten Moment für die Räumung bezeichnet hatten, 
nämlich bei Wiederherstellung des Friedens in Ostasien. Als dieser Augen- 
blick mit der Ratifikation des Friedens von Portsmouth gekommen war, 
haben wir allen durch Kontingente noch vertretenen Mächten die Evakuierung 
vorgeschlagen. Dieser unser Vorschlag ist von allen Mächten angenommen 
worden. — Was unsere Stellung zu den inneren Vorgängen in Rußland 
angeht, so enthalten wir uns dort jeder Einmischung. Wir beschränken 
uns auf den lebhaften und aufrichtigen Wunsch, daß sich die russische Ent- 
wickelung in glücklicher, friedlicher, ruhiger Weise vollziehen möge. Daran 
sind wir wirtschaftlich und politisch als Nachbarland in hohem Grade 
interessiert. Aber weder mit einem Angebot unserer Hilfe, noch mit irgend 
einer Art von Intervention mischen wir uns da ein. Was ich da sage 
über unsere Stellung zu Rußland, gilt ganz besonders für unsere Haltung 
gegenüber den Vorgängen in den Weichselgouvernements. In dieser Be- 
ziehung hat man uns die unsinnigsten Pläne untergeschoben. Ich habe in 
einem großen ausländischen Blatte an einem Dienstag gelesen, Rußland 
würde sich genötigt sehen, Polen die Autonomie zu geben, weil wir das 
verlangt hätten, um an der Grenze Ruhe zu haben. Und darauf habe 
ich am Mittwoch wieder in demselben Blatte gelesen, also als inzwischen 
anstatt der Gewährung der Autonomie der Belagerungszustand verkündigt 
war, der Belagerungszustand wäre auf unser Drängen proklamiert worden, 
weil wir uns vor Selbständigkeitsgelüsten unserer polnischen Staatsbürger 
fürchteten. Das eine war eine ebenso alberne Erfindung wie das andere. 
Wie sich die russischen Verhältnisse weiter entwickeln, ist lediglich Sache 
der Russen. Das versteht sich von selbst, daß wir ein Uebergreifen der 
Unruhen auf unser Gebiet nicht dulden werden. Bei uns werden wir 
die Ordnung aufrecht zu erhalten wissen, darauf verlassen Sie sich! — Was 
nun die Marokkofrage angeht, so kann ich in dieser Beziehung keine neue 
Tatsache vorführen, ich kann auch nicht alles sagen, was die Akten ent- 
halten. Es erscheint mir aber durchaus angemessen und berechtigt, daß 
die Vertretung des deutschen Volkes weiß, wie der verantwortliche Leiter 
der auswärtigen Politik zu einer Frage steht, die über ihren unmittelbaren 
materiellen Wert hinaus die internationale Stellung des Reiches berührt 
und ernste Schwierigkeiten gemacht hat. Ich glaube, das geschieht am 
besten, wenn ich Ihnen in ganz einfachen Linien ein Bild der Entwicklung 
 
	        
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