Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

Das Vesche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 6./15.) 141 
dieser Frage gebe. Es ist Ihnen bekannt, daß Deutschland schon zur Zeit 
der Madrider Konferenz, also vor 25 Jahren, in Marokko keine Sonder- 
vorteile suchte, sondern damals wie alle übrigen Mächte eine ruhige und 
unabhängige Entwickelung des scherifischen Reiches begünstigte. Indem 
wir an diesem Standpunkt festhielten, könnte eine deutsche Aktion wegen 
Marokko nur defensiver, nicht aggressiver Natur sein. Also keine terri- 
torialen Erwerbungen in Marokko, wohl aber Achtung vor den bestehenden 
Verträgen, Achtung unserer politischen Stellung zu Marokko als einem 
unabhängigen Staat, Achtung unserer wirtschaftlichen Gleichberechtigung in 
Marokko. Nun haben Anfang April vergangenen Jahres England und 
Frankreich wegen überseeischer Fragen ein Abkommen miteinander geschlossen. 
In bezug auf Marokko bedeutete dieses Abkommen eine Desinteressierung 
Enzlands zugunsten Frankreichs. England verpflichtet sich durch dieses 
Abkommen, Frankreich in Marokko freie Hand zu lassen. Selbstverständlich 
haben wir niemals der englischen Regierung das Recht bestritten, ebenso- 
wenig wie später der spanischen, über die marokkanischen Interessen ihrer 
Untertanen nach Gutdünken zu verfügen. Aber deutsche Rechte konnten 
durch ein englisch-französisches Abkommen nicht aufgehoben werden. Diese 
unsere Rechte ergaben sich aus der zwischen dem größeren europäischen 
Staaten, den Vereinigten Staaten von Amerika und Marokko am 3. Juli 1880 
zu Madrid abgeschlossenen Konvention und aus den deutsch-marokkanischen 
Handelsvertrag vom 1. Juni 1890. Hauptsächlich kam der Artikel 17 der 
Madrider Konvention in Betracht, durch welchen Marokko allen auf der 
Madrider Konferenz vertretenen Mächten das Recht der Behandlung als 
meinstbegünstigte Nation eingeräumt hat. Wenn also Frankreich auf Grund 
des französisch--englischen Abkommens in Marokko Sonderrechte erwerben 
wollte, welche mit dem Meistbegünstigungsrecht der anderen Staaten in 
Widerspruch stehen, so hatte es nicht nur die Zustimmung von Marokko, 
sondern auch diejenige der übrigen Signatarmächte einzuholen. (Lebhafte 
zuebemmung) Pacta sunt servanda. Wir hatten ein vertragsmäßiges 
Recht darauf, bei einer Neugestaltung der Verhältnisse in Marokko mit- 
gehört zu werden. Unsere Handelsinteressen in Marokko sind zu erheblich, 
als daß wir eine Entwickelung der Dinge hätten zulassen können, an deren 
Ende die vollständige Abschließung von Marokko stand. Wir haben ein 
erhebliches Interesse daran, daß die noch freien Gebiete in der Welt nicht 
noch weiter eingeschränkt werden (lebhafter Beifall), und daß der Betätigung 
unserer Industrie und der Ausbreitung unseres Handels in einem kommerziell 
wichtigen und zukunftsreichen Lande die Wege nicht verschlossen werden. 
Und wenn gesagt worden ist, diese unsere Handelsinteressen wären nicht 
erheblich genug, um eine ernsthafte Vertretung zu rechtfertigen, so erwidere 
ich darauß daß jedes Land das Recht hat, selbst zu entscheiden, wie hoch 
es den Wert solcher seiner Interessen schätzen will. Jedenfalls trifft das 
„Minima non curat praetor“ nicht auf Angelegenheiten zu, bei denen das 
Vertragsrecht und das Ansehen eines Landes in Frage kommen. Ich hätte 
lebhaft gewünscht, daß die Verständigung mit Frankreich über die Ver- 
einigung unserer vertragsmäßigen Rechte in Marokko mit dem französisch- 
englischen Abkommen sich rasch, glatt und geräuschlos vollzogen hätte. 
Von diesem Wunsche geleitet, habe ich mich vor diesem Hohen Hause bald 
nach dem Abschluß des englisch-französischen Abkommens über Marokko in 
entgegenkommender und versöhnlicher Weise ausgesprochen. Ich hob da- 
mals hervor, wir brauchten bis auf weiteres nicht anzunehmen, daß unsere 
Interessen und Rechte in Marokko verletzt werden würden. Ich betonte, 
wir hätten keinen Grund, a priori zu glauben, daß dem englisch-franzö- 
sischen Abkommen eine Spitze gegen uns gegeben werden solle. Die An-
	        
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