Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

150 Nas Veutsche Reich und seine rinzelnen Elieder. (Dezember 6./15.) 
werde ich mich jeder Kritik russischer Zustände, jedes Urteils über russische 
Verhältnisse enthalten. Aber das will ich doch sagen, daß die Verhältnisse 
in Deutschland wesentlich anders liegen als in Rußland, und das will ich 
weiter sagen, daß, wenn die Sozialdemokratie versuchen sollte, bei uns 
Plünderungen und Meuchelmord, Generalstreik und Massendemonstrationen 
einzubürgern, solche Versuche zerschellen werden an der Festigkeit unserer 
Institutionen, an der Entschlossenheit der Regierungen, an dem gesunden 
Sinn des deutschen Volkes, das sich das Joch der Sozialdemokratie nicht 
auferlegen lassen wird. (Stürmischer Beifall.) 
Abg. Müller--Sagan (fr. Vp.) tadelt, daß der Reichskanzler nichts 
über die Diäten des Reichstags gesagt habe. Vor einer Reform der 
Branntweinsteuer dürften neue Steuern nicht bewilligt werden. Die Be- 
kämpfung der Delcasséschen Ränke werde vom ganzen Volke unterstützt, 
aber man wolle nicht eine kriegerische Weltpolitik, sondern eine friedliche 
und Handel mit aller Welt. Abg. v. Kardorff (R.= ** wünscht schnelleren 
Ausbau der Flotte und polemisiert gegen Abg. Bebel. 
Am 12. Dezember führt Staatssekretär Graf Posadowsky die 
Fäuste Beschlußunfähigkeit des Reichstags nicht auf das Fehlen der Diäten, 
ondern auf die Ueberlastung der Abgeordneten mit allerlei politischen 
Arbeiten zurück. Ueber die Frage Bassermanns nach einem Gesetz über 
die Berufsvereine sagt er: Die Regierung wolle erst sehen, ob das Gesetz 
betreffend die Berufsvereine in diesem Hause eine Gestalt erhält, die für 
die verbündeten Regierungen annehmbar ist. Ist das der Fall, so werden 
sicherlich die verbündeten Regierungen einen Schritt weiter gehen und zur 
Schaffung einer Arbeitervertretung übergehen. Ich möchte nun mit ein 
paar Worten auf die soziale Frage im allgemeinen übergehen. Man muß 
ugeben, daß die moderne Arbeiterbewegung im engen Zusammenhange 
Lht mit der großen Entwickelung unserer deutschen Industrie. Diese 
moderne Arbeiterbewegung, die die großen Massen konzentriert an ein- 
zelnen industriellen Punkten und sie von ihrer heimischen Scholle loslöst 
und in vollkommen neue Verhältnisse einführt, ist der Schatten unserer 
industriellen Entwickelung. Es ist ganz naturgemäß, daß, wenn der Arbeiter 
sieht, wie die allgemeine Wohlhabenheit steigt und wenn seine Schulbildung, 
seine allgemeine Kultur wächst, auch seine Ansprüche an die äußere Lebens- 
haltung steigen und er einen größeren Teil an dem Gewinn der indu- 
striellen Betriebe für sich gewinnen will. Aber dieses Bestreben, daß an 
sich verständig und auch gerechtfertigt ist, hat seine natürliche Grenze. Es 
darf selbstverständlich durch die hohen Arbeitslöhne die Produktion nicht 
in einer Weise verteuert werden, daß schließlich die Kaufkraft und die 
Kauflust der Konsumenten sinkt, auch ist es ein Irrtum, der namentlich 
in sozialdemokratischen Kreisen herrscht, daß man stets den Verdienst der 
einzelnen Unternehmer viel zu hoch einschätzt. Wenn der Unternehmer 
nicht die Aussicht hat, sein Kapital wirklich gewinnbringend anzulegen, 
dann wird seine Unternehmungslust zurückgehen, wie es in Frankreich be- 
klagt wird. Man sieht immer nur die glücklichen Unternehmer. Die 
zahlreichen Unternehmungen aber, die still untergehen, von denen spricht 
kein Mensch. Deshalb wird, wenn die Lohnforderungen überschraubt 
werden, die Ware zu teuer und die Arbeiter haben den Schaden von diesen 
Zuständen, weil die Arbeitsgelegenheit rapid sinkt. Diesen Auswüchsen 
der Arbeiterbewegung kann man nicht durch Gesetz abhelfen, sondern der 
Arbeiter muß in seinem wirtschaftlichen Denken so ausgebildet sein, daß 
er diesen Zusammenhang zwischen Arbeitslohn und Arbeitsmarkt übersieht. 
Außerdem muß selbstverständlich eine gerechte Behandlung der Arbeiter 
seitens der Regierungsorgane und der bürgerlichen Gesellschaft hinzukommen,
	        
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