152 Das NVeutsche Reich uad seine einzelnen Glieder. (Dezember 6./15.)
sich geht und selbst den materialistischen Standpunkt verläßt, und wenn
das ganze Leben der bürgerlichen Klassen ein größeres Maß sittlichen
Ernstes gewinnt. Wir haben bei Beginn des 16. und des 19. Jahr-
hunderts Perioden gehabt, wo ein großer sittlicher und geistiger Läute-
rungsprozeß über das deutsche Volk gekommen ist. Diesem Läuterungs-
prozeß verdanken wir es eigentlich, daß es zu einem deutschen National-
staat gekommen ist. Und so wünsche ich auch, und es tut dringend not,
daß das deutsche Volk wieder eine geistige und sittliche Wiedergeburt er-
fährt. Dann werden die besitzenden Klassen in Deutschland und die
bürgerliche Gesellschaft wieder den Einfluß und die Schwerkraft gewinnen,
die sie in jedem Staat besitzen müssen und in jedem zivilisierten Staat
besitzen. (Beifall.)
Am 14. Dezember wendet sich Fürst Bülow gegen eine neue
Kritik der auswärtigen Verhältnisse durch den Abg. Bebel. Er hat ge-
meint, die deutsche Sozialdemokratie und die deutsche sozialdemokratische
Rresse registriere nur die Spannung, die bestehe, und trage zu einer
solchen nicht bei. Das bestreite ich auf das allerentschiedenste. Daß wir
England gegenüber keine aggressiven Pläne verfolgen, habe ich hundertmal
gesagt. Ich habe hundertmal gesagt, daß es Unsinn ist, uns solche Pläne
unterzuschieben. Diese unrichtige, diese falsche Behauptung wird fortgesetzt
von der sozialdemokratischen Presse wiederholt. Das leitende Blatt der
Sozialdemokratie, das Zentralorgan, der „Vorwärts"“, brachte am 12. August,
gerade in dem Augenblick, wo der Besuch der englischen Flotte in der Ostsee
weniger bei uns als an unserer Grenze eine gewisse Erregung hervorgerufen
hatte, einen Artikel, in dem es wörtlich hieß: Eines scheint ganz sicher und
nicht erfunden: Am Ausgang des vorigen Jahres war Deutschland im Begriff,
England den Krieg zu erklären. Das ist eine Lüge! Weiter hieß es in dem
Artikel: daß tatsächlich die Flotte damals mobil gemacht worden war, ist
seinerzeit von uns aus absolut sicherer Quelle mitgeteilt worden. — Das
ist Unsinn, wir haben niemals mobil gemacht. Als das Unwetter vorüber ge-
gangen war, wurde für das harte Wort „Mobilmachung“ ein mildernder Aus-
druck ersonnen. „Darüber besteht nicht der geringste Zweifel, daß man in
England genau unterrichtet ist, und daß auf diese Vorgänge die Erregung
zurückzuführen ist. Nur darüber ist man sich im unklaren, welche geheim-
nisvollen Vorkommnisse diese Krisis nahegerückt haben sollen. Leute,
welche sich für informiert ausgeben, sprechen seit Wochen immer ungenierter
davon, daß die Ursache in einem schweren Zusammenstoß zwischen Wil-
helm II. und Eduard VII. zu suchen sei.“ Das ist eine blödsinnige Lüge.
(Große anhaltende Heiterkeit.) Und daß solche Aeußerungen Material für
die Verleumdung liefern müssen, liegt auf der Hand, und daß das nicht
der Zweck solcher Ausstreuungen sein soll, werden wohl nur wenige be-
weifeln, welche außerhalb des Bannes der sozialdemokratischen Doktrin
Lehen. Demgegenüber erkläre ich auf das allerbestimmteste als der ver-
antwortliche Leiter der deutschen Politik: Es ist unwahr, daß wir uns
jemals mit aggressiven Plänen getragen haben; es ist unwahr, daß wir
jemals im Begriffe standen, England den Krieg zu erklären; es ist unwahr,
daß im vergangenen Winter mobil gemacht werden sollte; es ist unwahr,
daß wir England in irgend einer Weise gereizt oder provoziert hätten,
und mit der größten Entschiedenheit trete ich dem Versuche entgegen, den
Deutschen Kaiser, der seit 18 Jahren so viele Beweise ehrlicher Friedens-
liebe gegeben hat, als einen Friedensstörer hinzustellen. Am 1. August
brachte die Magdeburgische Zeitung einen Artikel, wo es am Schlusse
heißt: Kaiser Wilhelm hat keine kriegerischen Pläne, das liegt in der Natur
der Dinge und in dem Charakter des Volkes, an dessen Spitze der Kaiser