Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

154 Nes Veische Reich und seine einzelnen Slieder. (Dezember 16. —19.) 
16. Dezember. (Baden.) Die Zweite Kammer wählt zu 
Präsidenten die Abgg. Gönner (ul.), Lanck (Z.) und Geck (Soz.), 
ohne daß Abg. Geck verspricht, die üblichen Repräsentationspflichten 
erfüllen zu wollen. 
Dezember. Aus den Ostseehäfen gehen auf Veranlassung des 
Reichskanzlers mehrere Dampfer nach Riga und Libau, um ge- 
fährdete Reichsangehörige abzuholen. Viele russische Flüchtlinge 
kommen in Königsberg und Stettin an. " 
17. Dezember. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ schreibt 
über die Haltung des Kaisers und Bülows in der Marokkofrage: 
„Die „Rheinisch-Westfälische Zeitung“ will unterstellen, daß Fürst 
Bülow, obwohl er natürlich hinterher die volle Verantwortung übernahm, 
ja selbst das Urheberrecht für die Idee der Kaiserfahrt für sich bean- 
spruchte, von der ganzen, ihm allzu gefährlich erscheinenden Marokkosache 
nichts wissen wollte, bis der Kaiser selbst in seiner raschen demonstrativen 
Art das Versäumte nachzuholen suchte. Wir weisen diese Darstellung, wie 
die im Anschluß daran erwähnte „Klagen der Franzosen“, daß Fürst Bülow 
sich beim Eingreifen des Kaisers sozusagen „Watte in die Ohren stopfte“, 
als wahrheitswidrige Geschichtsklitterung zurück: denn dem Reichskanzler 
ist, wenn er auch das Eingreifen in die Marokkofrage auf den nach seiner 
Kenntnis der Dinge geeigneten Zeitpunkt verschob, die Wahrnehmung der 
deutschen Rechte und Interessen im scherifischen Reich niemals zu gefährlich 
erschienen. Die Landung des Kaisers in Tanger war keine plötzliche 
Schwenkung unserer Politik. Sie wurde nach reiflicher Ueberlegung ins 
Werk gesetzt als ein durch die Umstände gerechtfertigter Akt, um den inter- 
nationalen Charakter der Marokkofrage zu bekunden.“ 
17. Dezember. (Berlin.) Eine große von den Altesten der 
Kaufmannschaft berufene Versammlung spricht sich für gute Be- 
ziehungen zu England aus. Ahnliche Kundgebungen finden mehr- 
fach statt. 
17. Dezember. (Frankfurt a. M.) Eine Vertrauensmänner- 
versammlung der Zentrumspartei verwirft von der Reichssteuer- 
reform den Ouittungs= und Frachturkundenstempel, die Fahrkarten- 
steuer und verlangt Modifikation der Tabak= und Biersteuer. 
Dezember. Ein Zwischenfall mit Brasilien. 
In englischen Zeitungen wird von einer schweren Ausschreitung 
eines deutschen Kanonenbootes gegen Brasilien berichtet, Brasilien stelle 
deswegen Kriegsschiffe in Dienst, und die Union bereite eine Intervention 
vor. Am 19. teilt die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ mit, daß deutsche 
Offiziere und Mannschaften an Land gegangen seien, um den Verbleib 
eines der Desertion verdächtigen Matrosen festzustellen. Da sie dabei ihren 
Auftrag überschritten, sprach die deutsche Regierung ihr Bedauern aus. 
19. Dezember. (Bayern.) Die Reichsratskammer genehmigt 
einen Beschluß der Abgeordnetenkammer, Tagegelder an Geschworene 
zu gewähren.
	        
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