Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

168 Die Ssterreichischungarische Monarczie. (September 15.) 
Aufsehen. Ein Prozeß wegen Hochverrats gegen den Autor Zeyfig, 
in den auch Baron Banffy verwickelt wird, endet mit Freisprechung 
(November). 
15. September. (Ungarn.) Eröffnung und Vertagung des 
Reichstags. 
Ministerpräsident Fejervary verliest im Utgeordnetenhause fol-üK 
gende Erklärung: „Da es der Regierung unter dem zwingenden Druck 
der Verhältnisse nicht gelang, die ihr von dem König gestellte Aufgabe zu 
lösen, hat sie die Demission überreicht, die der König angenommen hat. 
Die Minister sind mit der provisorischen Fortführung der Geschäfte betraut.“ 
Der König hat mich zu der Erklärung ermächtigt, daß er den Wunsch 
hegt, aus den Reihen der Majorität auf der Grundlage eines annehm- 
aren Programms eine Regierung zu bilden, damit die koalierten Parteien 
die eventuellen Vorschläge dem Könige unterbreiten können. Das Abge- 
ordnetenhaus wird mittelst königlichen Handschreibens bis zum 10. Oktober 
vertagt. (Zurufe links: Altes Spiell) Franz Kossuth protestiert gegen 
eine Vertagung. Graf Tisza: Er würde gewisse, auf seine Demission 
bezügliche Umstände besprechen, wenn er nicht der Ansicht wäre, daß nach 
der Verlesung des Allerhöchsten Handschreibens betreffs Vertagung keine 
Verhandlung mehr zulässig sei. Ministerpräsident Baron Fejervary ver- 
wahrt sich gegen den Protest, den Kossuth gegen die Vertagung erhoben 
hat, und sagt, dies sei mit der Ehrfurcht, die man dem Könige schulde, 
unvereinbar. Graf Apponyi beruft sich darauf, daß bei einer früheren 
Gelegenheit nach der Verlesung des königlichen Handschreibens eine Dis- 
kussion über dessen Inhalt stattgefunden habe. Er führt aus, er biete 
alles auf, daß in dieser schweren Zeit der Prüfungen die Loyalität gegen 
die Krone unerschütterlich bewahrt werde, er protestiere jedoch dagegen, 
daß eine Art Loyalität sich entwickle, die es verbietet, daß gegen einen 
Mißbrauch der königlichen Rechte, für welche die Minister verantwortlich 
seien, Protest erhoben werde. Uebrigens beweise die Anwesenheit des 
Ministerpräsidenten, daß er eine Diskussion für zulässig halte. Minister- 
präsident Baron Fejervary sagt, er müsse dem entschieden widersprechen, 
daß seine Anwesenheit dahin gedeutet werde, er sei im Sitzungssaale ge- 
blieben, um den Protest Kossuths zurückzuweisen. Die Minister verlassen 
hierauf den Saal. Nach längerer Debatte, an der Redner verschiedener 
Parteien teilnehmen, wird der Antrag Kossuth, in welchem dieser gegen 
die Vertagung Einspruch erhebt, angenommen. Hierauf wird die Sitzung 
unter großer Bewegung geschlossen. 
Anläßlich des Zusammentritts des Reichstags demonstriert eine große 
Volksmenge, die bis auf 40 000 Köpfe geschätzt wird, in Pest für das all- 
gemeine Wahlrecht. 
September. (Ungarn.) Minister des Innern Kristoffy be- 
gründet in einer Wahlrede die Notwendigkeit des allgemeinen 
Wahlrechts: 
Die heutige Lage sei durch die allzugroße Beschränkung des Wahl- 
rechts geschaffen; von 20 Millionen ungarischer Staatsbürger besitze kaum 
eine Million das Wahlrecht. Je ausgedehnter aber der Kreis der Wahl- 
berechtigten, desto geringer sei die Möglichkeit einer Obstruktion, denn wo 
hinter der Mehrheit des Parlaments die Mehrheit des Volkes stehe, dort 
könne die Opposition das Mehrheitsprinzip nicht mißachten. Im unga-
	        
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