Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

Bie Sherreichifch-ungarische Menarchie. (Okt. Ende—Nov. 4.) 175 
wahlen ausschreiben. An der Spitze seines Programms stehe das all- 
gemeine, geheime, nach Gemeinden und unmittelbar auszuübende Wahl- 
recht. Bei Einführung dieser Institution werde er aber Sorge tragen für 
den Schutz der staatlichen und der nationalen Interessen. Ueber die mili- 
tärische Frage sagt er: Mit der Rückversetzung ungarischer Offiziere sei 
bereits begonnen; für die Offiziersunterrichtsanstalten sei bereits angeordnet 
worden, daß ein großer Teil der Unterrichtsgegenstände in ungarischer 
Sprache gelehrt werde und in derselben auch die Prüfungen zu erfolgen 
hätten; ebenso sei auch die ungarische Ausbildung der Mannschaften an- 
geordnet worden, auch in dem Falle, wenn ihre Muttersprache nicht die 
ungarische sei, vorausgesetzt, daß sie nur überhaupt Ungarisch verstehen. 
Auf diese Weise werde im Wege des unentgeltlichen Volksunterrichts im 
ganzen ungarischen Teile der Armee die Ausbildung ehestens in ungarischer 
Sprache erfolgen. Zur Lösung der Emblemfrage würden baldigst Kom- 
missionen zusammentreten. Die Regierung halte fest an der zweijährigen 
Dienstzeit. Ferner sollten große soziale Reformen, namentlich Arbeiter- 
versicherungsgesetze, ausgeführt werden. 
Ende Oktober. (Ungarn.) Die magyarischen Parteien er- 
klären sich im allgemeinen gegen das allgemeine Wahlrecht. 
Anfang November. (Cisleithanien.) Demonstrationen für 
das allgemeine Wahlrecht. 
In vielen großen Städten, z. B. in Wien, Prag, Graz, demon- 
strieren Umzüge und Versammlungen für das allgemeine Wahlrecht. An 
manchen Stellen, namentlich in Prag, hat die Demonstration einen revo- 
lutionären Charakter und wird mit Kundgebungen für die russische Revo- 
lution und gegen die Deutschen verbunden; zahlreiche Zusammenstöße mit 
Polizei und Militär finden statt, in Prag zerstört das Militär Barrikaden 
(5./7. November). Die sozialdemokratischen Eisenbahner Böhmens beschließen 
die Obstruktion, um Lohnerhöhungen und das allgemeine Wahlrecht zu 
erzwingen; für den allgemeinen Ausstand wird agitiert. 
4. November. (Cisleithanien.) Die „Abendpost“ bringt 
folgende offiziöse Kundgebung über das Wahlrecht: 
„Das Abgeordnetenhaus hat sich in seinem letzten Sessionsabschnitte 
fast ausschließlich mit der Wahlrechtsreform beschäftigt, und wer den De- 
batten aufmerksam gefolgt ist, konnte den Eindruck gewinnen, daß der 
früher verbreitete grundsätzliche Widerstand gegen eine weitgehende Aende- 
rung der Grundlagen des bisherigen Wahlrechtes zum Reichsrate sich er- 
heblich abgeschwächt hat und daß die Stimmung des Parlaments, sowie 
des größten Teiles der Oeffentlichkeit heute einer Reform wesentlich ge- 
neigter ist. Die Regierung vermochte diese Tatsachen nicht zu übersehen 
und mußte sich, je größer die Bedenken und Schwierigkeiten sind, auf die 
eine praktische Durchführung des Verlangens nach dem direkten, allgemeinen 
und gleichen Wahlrechte in Oesterreich stößt, desto eher und eingehender 
mit der Frage befassen, unter welchen Bedingungen den Wünschen nach 
einer dem Stande der öffentlichen Entwickelung entsprechenden Wahlreform 
willfahrt werden könnte. Es darf auch nicht übersehen werden, daß diese 
Wünsche durch Vorgänge in anderen Staaten mannigfache Unterstützung 
erfahren haben. In Oesterreich handelt es sich nicht um die Anwendung 
einer einfachen Formel; es müssen vielmehr, wenn nicht der Uebergang 
mit zu großen politischen Erschütterungen verbunden sein soll, Gesichts- 
punkte der verschiedensten Art berücksichtigt werden. Es ist dies eine Arbeit,
	        
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