12 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 20.)
bildung, Klarheit und Reife machen, so glauben wir annehmen zu dürfen,
daß Sie sich noch in einem Entwicklungs- und Übergangsstadium befinden,
aus welchem es Ihnen mit Gottes Beistande gelingen kann, sich zu einer
Erfassung des wahren Wesens der christlichen Religion hindurchzuarbeiten.
Sollten Sie im Gegenteil sich endgültig auf dem gegenwärtigen Stand-
punkte befestigen, so müssen wir abwarten, daß Sie die Folgerung ziehen
und Ihr Amt in einer Kirche, deren Glauben und Bekenntnis Sie nicht
nur nicht teilen, sondern sogar bekämpfen, freiwillig niederlegen.
Diese Verfügung wird von den Liberalen scharf kritisiert; es wird
hervorgehoben, daß Fischer 58 Jahre alt ist, 33 Jahre ohne Tadel im
Dienst der preußischen Landeskirche steht und von der Universität Königs-
berg beim Kant-Jubiläum zum Doktor der Theologie ernannt worden ist.
Die Beschwerde sei auf eine gehässige orthodoxe Agitation in seiner Ge-
meinde zurückzuführen. 30 Geistliche erlassen eine Erklärung für ihn:
„Wir sind überzeugt, daß in dem von einer unwürdigen Agitation maßlos
verdächtigten Pfarrer D. Fischer weniger eine einzelne Person als die
Freiheit der theologischen Meinungsäußerung in der Kirche überhaupt ge-
troffen werden soll, daß hier der Versuch vorliegt, jedem Pastor, gleichviel
ob seine Theologie konservativer oder liberaler gestimmt ist, die Unabhängig-
keit seiner wissenschaftlichen Forschung und die Möglichkeit ihrer öffentlichen
Aussprache zu nehmen. Demgegenüber müssen wir die Selbständigkeit
unsrer theologischen Überzeugungsbildung und Überzeugungsaussprache
für uns in Anspruch nehmen. Ist doch keine Theologie, weder die so-
genannte liberale, noch die sogenannte positive, etwas wert, wenn sie als
befohlen erscheint. Sie muß in der Freiheit geboren und erhalten werden.
„Und niemals war der Schutz der geistigen Unabhängigkeit des Pfarrer-
standes nötiger als heutzutage. Wie ein Fluch lastet auf unserem Stande
der Vorwurf der Unwahrhaftigkeit Ein gut Teil der Entfremdung gegen
die Kirche ist begründet in dem Mißtrauen gegen die Ehrlichkeit ihrer
Pastorten.. Daß die Gemeindepredigt andere Ziele hat als ein rein
lehrhafter Vortrag, ist uns dabei selbstverständlich; doch kann auch sie nur
als ganz persönliches Glaubenszeugnis aus den Tiefen einer wahrhaftigen
Seele auf die Gemeinde Eindruck machen. Für uns als evangelische
Christen und Geistliche kann die Richtschnur nur sein: Wir können nicht
wider die Wahrheit, sondern für die Wahrheit.“
20. Januar, 3. Februar. (Reichstag.) Interpellation über
den Bergarbeiterstreik im Ruhrrevier. Erklärungen Bülows und
Möllers.
Abgeordneter Hué (Soz.) bringt folgende Interpellation ein: Ist
dem Herrn Reichskanzler bekannt, daß die Werkbesitzer im Ruhrkohlen-
bezirk 1. systematisch die zum Schutze der Arbeiter in der Reichsgewerbe-
ordnung festgelegten und auch für die Bergarbeiter gültigen Bestimmungen
umgehen und sogar eine förmliche Organisation behufs Verrufserklärung
unbequemer Arbeiter geschlossen haben; 2. die reichsgesetzlichen Vorschriften
über den Arbeitsvertrag tatsächlich außer Wirkung setzten, die Arbeitsord-
nungen durchaus willkürlich anwenden und dadurch werkseitig fortgesetzt
Kontraktbruch geübt wird; 3. durch das Nullen der Kohlenwagen den
Arbeiter um einen Teil seines verdienten Lohnes betrügen; 4. durch ihre
Verkaufsorganisation, das Kohlensyndikat, ohne Berücksichtigung der In-
dustrie und der allgemeinen Volksbedürfnisse die Kohlenpreise systematisch
hinaufschrauben und, um dieses in höherem Grade zu erreichen, alles getan
haben, was den Ausbruch des Bergarbeiterstreiks zur Folge haben mußte?