Grsßbritemnien. (Juni 1.) 193
Eine Invasion Indiens sei ein häufig wiederkehrender Gesprächs-
gegenstand unter den russischen Offizieren; er glaube aber nicht, daß sie
irgend einen Teil der russischen Regierungspläne bilde. „Ich spreche jetzt
nur von einer allgemeinen Frage und möchte das Haus nicht auf die Ver-
mutung bringen, daß ich in einer Woche oder einem Monate vor Sie
hintreten und sagen werde, daß ein Krieg mit Rußland an der Nordwest-
grenze Indiens möglich oder gar wahrscheinlich sei.“ Uebertriebene Bedeu-
tung wird wohl den neuen russischen Eisenbahnen von denjenigen bei-
gemessen, die die Lektionen des mandschurischen Krieges zu hastig lesen.
In Asghanistan liegt die Sache anders: dort sind noch keine Eisenbahnen
gebaut, und sollten sie jemals gebaut werden, so ist es von Wichtigkeit,
daß dies nicht in Friedenszeiten geschieht. Eine Invasion in Indien ist
nur von Kabul oder Kandahar aus möglich, sagt der Redner weiter und
spricht dann über die unüberwindlichen Schwierigkeiten einer solchen In-
vasion und des Baues von Eisenbahnen. Die Verteidigung Indiens ist
eine Frage der Heranschaffung von Nahrungsmitteln und Ersatz an Mann-
schaften und Kriegsmaterial. Eine Ueberraschung ist in diesem Falle nicht
möglich; Indien kann nicht durch einen Ueberfall genommen werden. Wenn
wir die Grenzfrage endgültig festlegen müssen, dann kann dies nur ge-
schehen, wenn wir die Schwierigkeiten, die eine feindliche Streitmacht zu
überwinden hat, unvermindert aufrecht erhalten. Die Transportfrage ist
die größte Schwierigkeit der angreifenden Armee. Es müßte als eine
direkt feindselige Handlung gegen England betrachtet werden, wenn irgend
ein Versuch gemacht würde, eine Eisenbahn im Zusammenhang mit den
russischen strategischen Bahnen auf afghanischem Boden zu bauen. Ich
habe nicht den geringsten Grund, anzunehmen, daß die russische Regierung
jetzt — hoffentlich auch in Zukunft nicht — beabsichtigt, eine solche Bahn
zu bauen. Sollte der Versuch trotzdem gemacht werden, so glaube ich,
wenn es auch zuerst unsere Interessen nicht zu berühren scheint, daß dies
der denkbar schwerste und geradezu gegen das Herz des Kaiserreiches Indien
gerichtete Schlag wäre. (Zustimmung.) Wenn wir aus Blindheit, Lässig-
eit oder Feigheit die allmähliche Absorbierung Afghanistans zulassen, in
der Weise, wie wir notgedrungen die Absorbierung der verschiedenen
Khanate in Zentralasien zugelassen haben, wenn wir gestatten, daß die
russischen strategischen Eisenbahnen immer näher an die Grenze heran-
kommen, dann wird Großbritannien unweigerlich für seine Sorglosigkeit
dadurch bezahlen müssen, daß es eine viel größere Armee unterhalten muß,
als wir mit ruhigem Gewissen zu halten planen könnten. Voraussicht und
Mut werden diese Gefahren abwenden, aber ohne Voraussicht und Mut
können sie über uns kommen. (Zustimmung.)
1. Juni. (London.) Minister des Auswärtigen Lord Lans-
downe sagt auf einem Festmahl über die Beziehungen zu Japan
und Frankreich:
Es ist niemals die Rede davon gewesen, daß wir uns von dem
Bündnis mit Japan zurückziehen würden. Die einzige Frage, wann die
Zeit gekommen sein wird, würde die sein, ob das Bündnis in der gegen-
wärtigen Form erneuert oder ob es gestärkt und befestigt werden soll. Es
ist nie ein Augenblick gewesen, in dem unsere guten Beziehungen zu Frank-
reich fester gegründet waren als jetzt. Das gute Einvernehmen mit Frank-
reich ist ein Mittel dazu gewesen, Reibungen und Störungen, die von
einem großen Kriege unzertrennlich sind, zu mildern. Das Bündnis mit
Japan ist ein kraftvolles Werkzeug für den Frieden gewesen; wenn es
Europäischer Geschichtskalender. XLVI. 13