Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

             Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 20.) 15
 
eigentlich von der Politik einer Partei, deren geistiges Oberhaupt schon 
vor Jahren und Jahrzehnten die Führer der englischen Gewerkschaften, 
weil sie die Lage der Arbeiter auf friedlichem Wege ohne Streiks zu bessern 
bestrebt sind, für Verräter erklärte, einer Partei, die jeden wirtschaftlichen 
Fortschritt unter der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung 
für ausgeschlossen erklärt, die auch in dem Elend eines nicht glücklichen 
Streiks nicht eine Art nationalen Notstandes sieht — und ich würde 
jeden länger dauernden Streik als einen solchen Notstand ansehen —, 
sondern in ihm nur ein Mittel zur Schürung des Hasses sieht, zur 
Stärkung des Klassengefühls im Parteiinteresse. Was führt die sozial- 
demokratische Presse für eine Sprache gegenüber diesem Streik?! Es 
ist möglich, daß die Führer aus taktischen und praktischen Gründen in 
diesem Augenblick den Ausbruch des Streiks nicht gewollt haben. Nachdem 
aber der Streik ausgebrochen war, bringt jede Nummer jeder sozialdemo- 
kratischen Zeitung, insbesondere der Vorwärts, jeden Tag eine Wagen- 
ladung Oel, die ins Feuer gegossen wird. Der Vorredner hat der Re- 
gierung zum Vorwurf gemacht, daß sie einen Mangel von Voraussicht 
gehabt habe gegenüber diesem Streik, und dabei hieß es im ersten Aufruf 
der sozialdemokratischen Partei über den Ausstand im Ruhrgebiet über die 
Regierung und die Volksvertretung: „Unsere Regierungen sind kapitalistische 
Regierungen. Unsere Parlamente sind Kapitalistenparlamente.“ (Sehr 
richtig! bei den Sozialdemokraten.) Wie Sie diese Ausführungen mit 
Ihrem „Sehr richtig!“ unterstreichen, wenn Sie wirklich diese Ansicht hegen, 
dann verstehe ich nicht den beweglichen Appell, den der Herr Vorredner 
an die Mehrheit dieses Hauses und an die Einsicht der Regierung gerichtet 
hat. Entweder — oder! Entweder entbehrt dies Haus und die Regierung 
des Verständnisses für die Arbeiter, oder aber Sie verzichten auf derartige 
Angriffe hier und in Ihrer Presse. Dann verzichten Sie auf solche An- 
griffe auf die Regierung, wie wir es lesen mußten, daß von den Vermitt- 
lungsversuchen der Regierung, da sie nicht im Interesse des Arbeiters, 
sondern des Kapitals handle, daß also deshalb die Bergarbeiter von den 
Bemühungen des Herrn Ministers Möller nichts zu erwarten hätten! So 
erleichtern Sie uns die Verständigung im Ruhrrevier, von der der Vor- 
redner behauptet hat, daß sie ihm am Herzen liege. M. H.! Wenn Sie 
den Streik, wie es der Vorredner eingehend ausgeführt hat, wirklich nicht 
provoziert haben, wenn der Streik — Herr Hus bestätigt mir das durch 
sein Kopfnicken! — wenn der Streik sogar gegen Ihren Willen und Wunsch 
ausgebrochen ist: wo bleibt da die Hoffnung des Abgeordneten Bebel, daß 
in seiner Zukunftsgesellschaft die Frage der Produktion sich spielend lösen 
werde, daß es ihm möglich sein würde, die Massen in ihrer Bewegung 
aufzuhalten. Der Vorredner hat den Ausbruch des Streiks auf die mate- 
rialistische Art der Arbeitgeber und auf aufreizende Artikel der bürgerlichen 
Blätter zurückgeführt. Meine Herren, so einfach liegt die Sache doch nicht. 
Alle Revolutionäre, wie schon vor hundert Jahren die Jakobiner, können 
wohl Leidenschaften entfesseln, sie zügeln aber können sie nicht. Die am 
lautesten klagen über das Regiment der Arbeitgeber, werden wohl auch die 
Hauptschuldigen sein mit ihren seit Jahrzehnten betriebenen Anschuldigungen 
und Hetzereien, wenn, wie ich behaupte, gegen die Hoffnung der Regierung 
und der großen Mehrheit dieses Hauses der Streik sich ausdehnt und die 
armen fanatisierten und verführten Arbeiter und ihre Familien in Elend 
und Not bringt. Der Vorredner hat gesagt, daß aus der Unbesonnenheit 
oft Gutes hervorgehe. Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß auf 
sozialem Gebiete nur durch Besonnenheit dauernde Fortschritte zu erzielen 
sind. Deshalb hoffe ich, daß die Beratungen dieses Hauses getragen sein
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.