Kußland. (Januar 24.) 257
bei den Putilow-Werken, von denen einige, wie erwiesen ist, nicht einmal
entlassen worden sind, sondern freiwillig die Arbeit aufgegeben haben.
Trotzdem stellten die Arbeiter am 15. Januar die Arbeit ein, wozu sie
durch Gapon und die Mitglieder der Gesellschaft aufgereizt wurden. Da-
bei forderten die Arbeiter Abänderung der Arbeitsordnung und die Ent-
lassung von Arbeitern. Die Beruhigungsversuche der Fabrikinspektion.
blieben fruchtlos. Alle Arbeiter mehrerer großer Fabriken traten dem
Ausstande bei, der sich schnell ausdehnte und auf alle Fabriken übergriff.
Gleichzeitig wuchsen die Forderungen der Arbeiter. Schriftliche, meist von
Gapon formulierte Forderungen wurden unter die Arbeiter verteilt. Die
Arbeitgeber hielten eine Beratung ab. Sie kamem zu dem Ergebnis, daß
die Befriedigung einiger der Ansprüche ein vollständiges Sinken der In-
dustrie zur Folge haben müsse; andere Forderungen müßten geprüft und
teilweise auch erfüllt werden. Dabei wurde die Bereitwilligkeit aus-
gesprochen, mit den Arbeitern zu verhandeln, was aber bei der Organi-
sation der Ausständigen unmöglich war; Verhandlungen wären nur mit
Arbeitern einzelner Fabriken möglich gewesen. Damit waren die Arbeiter
nicht einverstanden. Da der Ausstand ohne Ruhestörung verlief, wurden
keine Repressivmaßregeln ergriffen und keine Verhaftungen vorgenommen.
Der Agitation der Arbeitergesellschaft schloß sich jedoch bald die Agitation
der revolutionären Kreise an. Am Morgen des 21. Januar trat die Ge-
sellschaft, geführt von Gapon, offen mit revolutionären Bestrebungen her-
vor. An diesem Tage faßte Gapon eine Petition der Arbeiter an den
Kaiser ab, in der außer Forderungen für die Arbeiter freche Forderungen
politischen Charakters enthalten sind. Unter den Arbeitern wurde eine
schriftliche Bekanntmachung verbreitet, in der die Notwendigkeit ausgedrückt
ist, sich am 22. Januar auf dem Palaisplatz zu versammeln, um durch
Gapon dem Kaiser ein Bittgesuch zu unterbreiten. Den Arbeitern wurden
die Forderungen politischen Charakters und der Zweck der Versammlung
am Palaisplatz verheimlicht. Fanatische Reden, die Gapon, seiner geist-
lichen Würde vergessend, an die Arbeiter richtete und die verbrecherische
Agitation erregten die Arbeiter dermaßen, daß sie am 22. Januar in
großen Massen zur Residenz zogen. An einigen Punkten kam es zwischen
ihnen und den Truppen infolge der Weigerung, den polizeilichen Anord-
nungen Folge zu leisten oder infolge direkter Angriffe auf das Militär zu
blutigen Zusammenstößen. Das Militär mußte feuern auf der Schlüssel-
burger Chaussee, bei dem Narewschen Triumphtor, auf dem Treitzkiplatz
und in der vierten Linie im Wassili-Ostrow-Stadtteile, ferner im Alexander-
garten, an der Ecke der Newski- und der Gogolsstraße, bei der Polizei-
brücke und bei der Kasankathedrale. Auf der vierten Linie errichtete die
Menge aus Draht und Brettern drei Barrikaden; auf einer derselben
wehte eine rote Flagge. Aus den Fenstern der benachbarten Häuser wurde
das Militär mit Steinen beworfen und beschossen. Den Schutzleuten nahm
die Menge die Säbel ab und bewaffnete sich damit. Ferner plünderte die
Menge die Waffenfabrik Schaff und raubte 100 Klingen, welche aber
großenteils von der Polizei fortgenommen wurden. Die Menge zerstörte
die Telephonleitung und stürzte die Telegraphenpfosten um. Auf das
Amtsgebäude des zweiten Stadtteiles wurde ein Angriff gemacht und das
Lokal demoliert. Auf der St. Petersburger Seite wurden abends fünf
Buden geplündert.
24. Januar. (Petersburg.) Durch einen kaiserlichen Erlaß
wird eine Militärdiktatur in Petersburg eingerichtet, an deren Spitze
der Gouverneur, General Trepow, steht.
Européischer Geschichtskalender. XVI. 17