Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

Kußland. (April 15. 29.) 265 
Nach den bisher veröffentlichten vorläufigen Kassenausweisen über 
die Ausführung des Staatsbudgets für 1904 gingen an ordentlichen Ein- 
nahmen ein 2 Milliarden 17 Millionen Rubel, also 37 Millionen mehr 
als veranschlagt war, 14 Millionen weniger als 1903 und 111 Millionen 
mehr als 1902. Die ordentlichen Einnahmen überstiegen die ordentlichen 
Ausgaben, die 1 Milliarde 910 Millionen betrugen, um 107 Millionen. 
Im Extraordinarium waren für Kriegsausgaben 641 Millionen, für Eisen- 
bahnbau und Darlehen an Eisenbahngesellschaften 162 Millionen ange- 
wiesen, zusammen 803 Millionen. Zu deren Deckung wurde verwandt der 
erwähnte Einnahme-Ueberschuß von 107 Millionen, der Ertrag der 1904 
realisierten fünfprozentigen Schatzscheine und Bons der Reichsrente in 
Höhe von 431 Millionen, ferner andere außerordentliche Einnahmen in 
Höhe von 3 Millionen und die Restbestände früherer Jahre in der Höhe 
von 381 Millionen, zusammen 922 Millionen. Zu Beginn des Jahres 
1905 verblieben an freien Restbeständen 119 Millionen, wobei der Ertrag 
der 4½ prozentigen Anleihe nicht mitgerechnet ist. 
15. April. Verfügung über die Reform der bäuerlichen Ver- 
hältnisse. 
Ein kaiserliches Reskript an den früheren Minister des Innern, 
Goremkin, ordnet die Bildung einer Spezialkommission unter seinem Vorsitz 
an, die sich mit der gesetzlichen Feststellung der Bestimmungen zur Regelung 
der Verhältnisse des bäuerlichen Grundbesitzes, der eine Hauptgrundlage 
des nationalen Wohles bedeute, befassen soll. Es soll Vorsorge getroffen 
werden, um den Bauern bessere Mittel zur Benutzung ihrer Ländereien 
an die Hand zu geben und solchen, die einen zu geringen Besitz haben, 
die Möglichkeit der Auswanderung nach anderen Gebieten Rußlands oder 
der Erweiterung ihres Besitzes mit Hilfe einer Bank zu gewähren. Ebenso 
soll der bäuerliche Besitz von dem Grund und Boden anderer Besitzer ab- 
gegrenzt werden, um das Vertrauen des Volkes in die Unverletzlichkeit 
des Privateigentums zu stärken. 
29. April. Folgende Beschlüsse über Toleranz in Glaubens- 
sachen werden veröffentlicht: 
Der Abfall von dem orthodoxen Glauben zu einem anderen christ- 
lichen Glauben zieht keine Verfolgung oder irgendwelche für die persön- 
lichen und bürgerlichen Rechte nachteiligen Folgen nach sich. Dabei werden 
die als Volljährige Abgefallenen zu der Konfession zugehörig anerkannt, 
zu der sie übergetreten sind. Bei dem Uebertritt eines Ehegatten zu einem 
anderen Glauben verbleiben die minderjährigen Kinder dem zu diesem 
Glauben nicht übergetretenen Teil. Bei dem Uebertritt des Ehepaares 
nehmen die Kinder bis zu 14 Jahren den Glauben der Eltern an, die 
älteren Kinder verbleiben dem früheren Glauben. Den Christen jeder 
Konfession ist es gestattet, aufgenommene, ungetaufte Findlinge und Kinder 
unbekannter Herkunft nach dem Ritus des eigenen Glaubens taufen zu 
lassen. Die Raskolniken (Schismatiker) werden fortan in drei Gruppen 
geteilt, nämlich: Altgläubige, Sektierer und Bekenner von Irrlehren, deren 
Befolgung den gerichtlichen Strafen unterliegt. Die ersten beiden Gruppen 
erhalten das Recht des öffentlichen Gottesdienstes und bestimmte bürger- 
liche Rechte. Die Raskolniken jeder Art werden Altgläubige genannt, wenn 
sie die Grunddogmen der orthodoxen Kirche oder einige Gebräuche der- 
selben nicht anerkennen und den Gottesdienst nach eigenen, alten Büchern 
verrichten. Religiöse Altgläubige und Sektierergemeinden erhalten das 
Recht für den Besitz von Mobilien und Immobilien und für den Bau
	        
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