Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

322 Mebersicht der Vyolitischen Entwickelung des Jahres 1905. 
reich als Nachbar Marokkos den Beruf habe, dort für Aufrecht- 
erhaltung der Ruhe zu sorgen und den Sultan in den notwen- 
digen militärischen und finanziellen Reformen zu unterstützen, 
d. h. es erkannte das schon lange hervorgetretene Bestreben Frank- 
reichs an, Marokko allmählich unter sein Protektorat zu stellen. 
Frankreich verpflichtete sich, in den nächsten dreißig Jahren Eng- 
land kommerziell in Marokko auf gleichem Fuße mit Frankreich 
zu behandeln. Beide Mächte verfügten also einseitig über die 
Zukunft eines souveränen Staates und damit über die Rechte der 
anderen Nationen, denn nach Durchführung des französischen Pro- 
tektorats müßten die Beziehungen zwischen Marokko und dem Aus- 
lande von Frankreichs Politik abhängig sein. Die in dem Ver- 
trag enthaltene Formel, daß Frankreich nicht beabsichtige, den 
geltenden Zustand in Marokko zu ändern, enthielt keine Verpflich- 
tung und bedeutete daher nichts. So wenig wurde auf die übrigen 
Mächte Rücksicht genommen, daß ihnen der Vertrag nicht einmal 
offiziell mitgeteilt wurde; nur mit der anderen Nachbarmacht, 
Spanien, schloß Frankreich nachträglich noch ein Abkommen (1904 
S. 249). Alles das geschah, obgleich die größeren europäischen 
Staaten und Nordamerika im Jahre 1880 in einer Konvention 
in Madrid ausdrücklich den Grundsatz der kommerziellen Gleich- 
berechtigung in Marokko proklamiert hatten. Von besonderer 
Wichtigkeit war das Aprilabkommen für Deutschland, dessen 
Handel mit Marokko im Steigen begriffen ist und das seiner 
ganzen Politik nach danach streben muß, die noch freien Gebiete 
vor der Beschlagnahme durch eine einzelne Macht zu schützen. Um 
so bedenklicher wurde die Aussicht für die deutschen Beziehungen 
zu Marokko, als Frankreich bald keinen Zweifel ließ, wie es seine 
Rolle als Ratgeber und Helfer des Sultans auszulegen gedachte. 
Zu Beginn des Jahres überreichte der Gesandte René Taillandier 
in Fez mehrere Forderungen, deren Ausführung die Autonomie 
Marokkos beendet hätte: in der Armee sollten zahlreiche Franzosen 
und Muhamedaner aus Algier als Instruktoren und Offiziere an- 
gestellt werden, ebenso in der Polizeitruppe, so daß faktisch die 
städtische Verwaltung in französische Hände gekommen wäre; ein 
Teil der Zölle sollte an Frankreich fallen für Verbesserungen, die
	        
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