Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

Aebersitt der yolitischen Entwickelung des Jahres 1905. 329 
zweifelte man bei den anfänglichen Meinungsverschiedenheiten über 
die Verstärkung der Kavallerie (S. 55, 62) von vornherein nicht 
an einer Verständigung, und fsie ist ja in der Tat durch geringe 
Konzessionen der Regierung gefunden worden. Wichtig ist, daß die 
zweijährige Dienstzeit für Feldartillerie und Fußtruppen, die bis- 
her provisorisch angenommen war, nun endgültig festgesetzt ist. 
Eng verknüpft mit den Ausgaben für Heer und Flotte ist 
die Reichsfinanzreform. Wie schon in den früheren Jahren 
erwähnt, reichen die Einnahmen des Reiches bei weitem nicht aus, 
die Erhöhung der Matrikularbeiträge in entsprechendem Maße ist 
mit Rücksicht auf die Finanzen der Einzelstaaten untunlich, so daß 
zur Deckung des Defizits nur Anleihen übrig blieben. Trotz der 
gesteigerten Steuerkraft hat so das Reich im letzten Menschenalter 
eine Schuldenlast von 3⅛½ Milliarden angehäuft. Zur Deckung 
des Fehlbetrags, der auf fast eine Viertelmilliarde berechnet wird, 
hat nun die Regierung eine Anzahl Steuern auf Bier, Tabak, 
Verkehrsmittel und Erbschaften vorgeschlagen (S. 135), die freilich 
in der Offentlichkeit und in der Reichstagskommission lebhafte An- 
griffe erfahren haben. Es ist einstweilen noch ganz unklar, ob die 
Vorschläge in veränderter Form oder gar nicht Gesetz werden und 
ob die Finanznot des Reiches gehoben wird. — Weniger Schwierig- 
keiten haben die Handelsverträge verursacht. Ohne Zwischen- 
fälle find sie in der Kommission wie im Plenum angenommen 
worden, da seit der Genehmigung des Zolltarifs die prinzipielle 
Frage abgeschlossen war, und die Parteien, die im vorigen Reichs- 
tag den Zolltarif durchgesetzt hatten, auch im jetzigen die Mehrheit 
behalten haben. Der Handelsvertrag mit Österreich-Ungarn, der 
wegen der Überwachung der Vieheinfuhr große Schwierigkeiten ge- 
funden hatte, war noch rechtzeitig abgeschlossen worden, um mit 
den übrigen beraten werden zu können. Gegen Schluß des Jahres 
wurde über die Neugestaltung der Handelsbeziehungen zu England 
und den Vereinigten Staaten verhandelt. 
In der Kolonialpolitik war das wichtigste Stück die 
weitere Bekämpfung des südwestafrikanischen Aufstandes. Es ist — 
freilich nicht ohne harte Verluste (S. 307) — so viel erreicht, daß 
die Kampfkraft der Hereros schon gegen Ausgang des Sommers ge-
	        
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