Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

              Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 1.) 33 
geständnisse macht gegenüber früher, wo sie ein unübersteigliches Hindernis 
bildeten. Ich erinnere beispielsweise an die Gleichstellung jüdischer und 
christlicher Handlungsreisender, an das Paßwesen, an die Erleichterung im 
Kauf und Verkauf von Grundbesitz. Finnland soll erst allmählich in das 
russische Zollgebiet einverleibt werden und die Einverleibungen sollen nur 
insoweit zulässig sein, als wir zwei Jahre vorher davon in Kenntnis ge- 
setzt werden. Das ist ein wertvolles Zugeständnis namentlich für Lübeck 
mit seinem lebhaften Handel nach Finnland. Rußland hat Abstand ge- 
nommen von seiner Forderung nach Zuschlagszöllen für eingeführte Waren, 
die per Eisenbahn nach Sibirien gehen. Hätte es diese Forderung auf- 
recht erhalten, so würde der neue Handelsvertrag nur für einen Teil des 
weiten russischen Reiches Geltung gehabt haben. Endlich hat Rußland die 
Brüsseler Zuckerkonvention anerkannt. Meine Herren, es kann nicht meine 
Absicht sein, jetzt auf diese Einzelheiten einzugehen. Nur vor Übertrei- 
bungen möchte ich warnen, wenn von Prohibitivzöllen gesprochen wird. 
Einzelne der neuen Positionen mögen eine solche Wirkung ausüben (hört, 
hört! links), für die Mehrheit derselben trifft das aber nicht zu. Bei einer 
Reihe von wichtigen Ausfuhrartikeln ist es uns gelungen, die bisherigen 
Zollsätze aufrecht zu erhalten, wie bei Zement, Anilin und Farben, bei 
anderen Positionen haben wir Zollerhöhungen akzeptieren müssen. Diese 
Zollerhöhungen sind aber teils geringfügiger Natur, teils nach Beschaffen- 
heit der Ware und ihres Ausfuhrwertes ohne besondere Bedeutung für 
unsere Ausfuhrindustrie. Von größerer Bedeutung sind die Erhöhungen 
der Zölle für Maschinen und Maschinenteile und für Eisenwaren. Wir 
hoffen aber, daß auch bei diesen Positionen die Wirkung eine weniger schäd- 
liche sein wird, als es die Zahlen auf den ersten Blick befürchten lassen. 
Einzelne Maschinen bleiben wie bisher vom Zoll befreit, landwirtschaftliche 
Maschinen. Damit scheidet schon ein Objekt von 5 bis 6 Millionen aus. 
Vor allem aber die große Position der nicht besonders benannten eisernen 
Maschinen bleibt mit dem bisherigen Zollsatz von 2,25 Kopeken erhalten; 
nach der russischen Rechnung fallen unter diese Position Waren im Werte 
von 13 bis 14 Millionen Rubel. Wenn auch in anderen Positionen etwas 
geändert ist, wird noch immer ein großer Teil der Ausfuhr unter diese 
Position fallen. Ich gebe zu, daß die Zollerhöhungen für Lokomobilen 
und Dampfmaschinen erheblich sind. Dafür haben wir Ermäßigungen für 
Dreschmaschinen u. s. w., aus denen, wie ich annehme, die deutsche Eisen- 
industrie Vorteil ziehen wird. Bedeutende Konzessionen haben wir erlangt 
für unsere Konfektionsindustrie. Auch den anderen Vertragsstaaten haben 
wir bei den Industriezöllen Zugeständnisse machen müssen, über welche der 
Herr Staatssekretär Frhr. v. Richthofen das Nähere wird mitteilen können. 
So unerwünschter Natur diese Zugeständnisse auch sind, so sind wir doch 
überzeugt, daß unsere Industrie es verstehen wird, sich mit den neuen 
Verhältnissen abzufinden. Die deutsche Industrie steht so hoch, sie verfügt 
über so ausgezeichnete technische Kräfte, daß sie nicht nur ihren bisherigen 
Besitzstand behaupten, sondern weitere Fortschritte auch unter dem Regime 
der neuen Handelsverträge machen wird. Das wird die Statistik der 
nächsten Jahre zeigen... 
               Zum Schluß sagt er: Die Verträge können nur im ganzen an- 
genommen oder verworfen werden. Von den neuen Verträgen wird kein 
Erwerbsstand im Deutschen Reiche ganz befriedigt werden. Es liegt im 
Wesen des Vertrages, daß nicht alle Wünsche erfüllt werden können. Die 
verschiedenen Erwerbsgruppen sollen aber in den Verträgen nicht nur sehen, 
was sie ihnen nicht bringen, sondern das Gute anerkennen, was sie für sie 
enthalten, und dann die Vorteile gegen die Nachteile abwägen. Eine ge- 
       Europäischer Geschichtskalender. XIVI.                                                 3
	        
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