Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

164 Das Denisqhe Reich und seine einjeluen Glieder. (September 22./28.) 
Linie Braunschweig und Lüneburg unzweifelhaft seien, und wenn man 
deshalb eine endgültige Regelung der Verhältnisse wünsche, so müsse man 
zunächst versuchen, diesen Rechten Geltung zu verschaffen. Bisher sei die 
Ausübung des Thronrechtes zunächst gescheitert am Beschlusse des Bundes- 
rates vom 2. Juli 1885, welcher ausführt: „Die Ueberzeugung der ver- 
bündeten Regierungen ist dahin auszusprechen, daß die Regierung des 
Herzogs von Cumberland in Braunschweig, da derselbe sich in einem dem 
reichsverfassungsmäßig gewährleisteten Frieden unserer Bundesratsmitglieder 
widerstreitenden Verhältnis zum Bundesstaat Preußen befindet, und im 
Hinblick auf die von ihm geltend gemachten Ansprüche auf Gebietsteile 
dieses Bundesstaates, mit den Grundprinzipien des Bundesvertrages und 
der Reichsverfassung nicht vereinbar sei.“ Das sei der erste Grund, wes- 
halb das herzogliche Haus den Thron nicht habe annehmen können. Man 
müsse zunächst versuchen, in ehrlicher und aufrichtiger Weise die Gegensätze 
zu beseitigen. Die Kommission habe die Ueberzeugung, daß die berufenen 
Stellen einen Weg finden werden. Sie sei ebenfalls überzeugt, daß der 
Landtag die heilige Pflicht habe, in diesem Augenblick auf Klärung der 
Verhältnisse hinzuwirken. Nun sei die Kommission der Ansicht, daß sie, 
weil offizielle Mitteilungen über die näheren Gründe der zwischen der 
preußischen Krone und dem herzoglichen Haus bestehenden Differenzen ihr 
nicht zugegangen seien, zu diesen Gründen unmöglich Stellung nehmen 
könne. Dagegen sei die Kommission der Ansicht, daß die Uebernahme der 
Regierung durch ein Mitglied des herzoglichen Hauses nicht anders mög- 
lich würde, als wenn zuvor das zweite Hindernis beseitigt würde, und das 
seien die Ansprüche, die, wie der Bundesrat sage, auf Teile des König- 
reichs Preußen geltend gemacht würden. Die Kommission sei der Mei- 
nung, daß auf diese Ansprüche in unzweideutiger Weise verzichtet werden 
müsse, bevor eine Thronbesteigung durch den Herzog von Cumberland oder 
ein Mitglied seines Hauses möglich sei. Das erfordere die Rücksicht auf 
das Herzogtum selbst. Allein könne man nichts ausrichten, man sei an- 
gewiesen auf ein gutes Verhältnis mit Preußen. Es würde selbstverständ- 
lich dieses Verhältnis trüben, wenn der Inhaber des Thrones Ansprüche 
geltend mache auf einen anderen Thron, und auch, wenn nur in anderen 
Teilen des Reiches die Ueberzeugung platzgriffe, daß die Geltendmachung 
solcher Ansprüche hier Unterstützung fände. Das sei nach Ansicht der Kom- 
mission ausgeschlossen. In der Liebe zum Vaterlande sind wir alle einig. 
Deshalb sollen auch alle dazu beitragen, daß die Bundestreue und die Liebe 
zu Kaiser und Reich in keiner Weise hier geschmälert wird. Und deshalb 
ist der Verzicht erforderlich. (Beifall.) 
Staatsminister v. Otto: Die staatsrechtliche Kommission hat den 
Inhalt der von Ihnen einstimmig angenommenen Resolution vorher zur 
Kenntnis des Regentschaftsrates gebracht und damit diesem Gelegenheit 
gegeben, sofort zu ihm Stellung zu nehmen. Der Regentschaftsrat hat 
bereits beschlossen, Anordnungen zu treffen, daß dem ausgesprochenen An- 
trage der Versammlung sofort entsprochen werde. Demgemäß wird das 
Staatsministerium sofort handeln. 
22./28. September. (Mannheim.) Sozialdemokratischer Partei- 
tag. — Organisation; Massenstreikl; Gewerkschaften; Intervention 
in Rußland. 
Dem eigentlichen Parteitage geht eine Frauenkonferenz vorher, die 
eine Resolution auf Agitation unter den Landarbeiterinnen annimmt. In 
einer Debatte über das Frauenstimmrecht sagt Abg. Bebel, der Radikalis- 
mus der sozialdemokratischen Prinzipien zwinge die anderen Parteien zum
	        
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