Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

196 Na Veuische Reich und seine einzelnen Glieder. (November 14./15.) 
ich ja eben: unten und oben. Gewiß ist es gut, alle Wetterzeichen am 
Horizont der auswärtigen Politik zu betrachten und namentlich jedes 
Wetterleuchten. Aber vor jedem Stirnrunzeln des Auslandes zu erbeben, 
ist nicht die Art großer Völker, und wir wollen und sollen ein großes 
Volk sein. (Lebhaftes Bravol) Ein Volk darf nicht klein von sich denken. 
Es ist unsere Pflicht, durch eine friedliche und gerechte auswärtige Politik 
uns Vertrauen und Sympathien zu erwerben. Aber allen Haß und jeden 
Neid zu entwaffnen, ist weder dem einzelnen noch einem Volke möglich. 
Neid ist süßer als Mitleid. Wir haben uns mehr wie einmal in Situatio- 
nen befunden, wo die Gefahr einer allgemeinen Gruppierung gegen uns 
näher lag als heute. In seiner unsterblichen Rede vom 6. Februar 1888 
hat Fürst Bismarck dargelegt, daß das Bestehen von Koalitionen und eine 
daraus resultierende Kriegsgefahr während der ersten Hälfte des 18. Jahr- 
hunderts der beinahe normale Zustand in Europa gewesen sei, und wie 
es auf seiten unserer auch damals viel geschmähten Diplomatie eines nicht 
geringen Grades von Geschicklichkeit und Umsicht bedurft hätte, um zu 
verhindern, daß Preußen im Widerspruch mit seinen Interessen und gegen 
die Absicht seiner Leiter in fremde Streitigkeiten verwickelt wurde. Fürst 
Bismarck hat nachgewiesen, wie oft nicht nur in den Tagen des Großen 
Kurfürsten und des Großen Königs, sondern auch in jenen verhältnis- 
mäßig ruhigen Zeiten der heiligen Allianz und des Frankfurter Bundes- 
tages, in jenen Zeiten wo, um mit Heine zu reden, Deutschland sanft 
schnarchte in der Hut von 36 Monarchen, daß auch in jener stillen Zeit 
die Gefahr einer Isolierung für uns bestand. Ich brauche die Herren 
nicht daran zu erinnern, daß auch in jener großen und unvergeßlichen, 
von dem Herrn Abg. Bassermann mit Recht gerühmten Zeit, wo ein durch 
ein langes Leben, durch frühzeitige schwere Erfahrungen, die ihn für das 
ganze Leben Maßhalten als höchste Weisheit gelehrt hatten, durch strenge 
Selbstzucht gereifter Monarch an der Spitze stand, wo einer der größten 
Staatsmänner aller Zeiten unsere Politik lenkte, auch damals, die Gefahr 
von Koalitionen gegen Deutschland vorlag. Tiefe Verstimmungen haben 
damals zwischen uns und Rußland, zwischen uns und England stattgehabt. 
Als ich im Sommer 1884 als Geschäftsträger von Paris nach St. Peters- 
burg geschickt wurde und auf der Durchreise mich in Varzin meldete, sprach 
Fürst Bismarck mit Besorgnis von unseren Beziehungen zu Rußland, die 
seit dem Berliner Kongreß oder richtiger seit der Krieginsichtepisode von 
1875 nicht mehr die alten waren. Er erwog, ob für uns die Unannehmlich- 
keit, zwischen Rußland und Oesterreich zu optieren, größer sei, oder die 
Gefahr der Wiederkehr der Konstellation von 1757, das heißt eines gemein- 
samen Vorgehens der Russen und Oesterreicher gegen uns. In der Zeit 
von 1878 bis 1889 haben sich unsere Beziehungen zu Rußland trotz aller 
Bemühungen des Fürsten Bismarck, der gerade auf dem Gebiete der 
deutsch-russischen Beziehungen alle Hilfsquellen seines fruchtbaren und er- 
findungsreichen politischen Genies entfaltete und trotz seinem stellenweise 
weitgehenden Entgegenkommen gegenüber Rußland, ich war damals an 
unserer Botschaft in St. Petersburg, ich weiß es genau, ständig verschärft 
und verschlechtert. Auch England gegenüber fehlte es in den letzten 20 
Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht an Verstimmungen, die zeitweise 
einen gereizten Charakter annahmen. Daß ein vom Fürsten Bismarck an- 
fangs der 80er Jahre unternommener Versuch, ein besseres Verhältnis zu 
England anzubahnen, mißglückte, und nicht durch seine Schuld, hat eine 
englische Publikation der letzten Zeit auch weiteren Kreisen enthüllt. Und 
was Frankreich angeht, so ist es doch wohl die Frage, ob die Gefahr 
eines Zusammenstoßes mit Frankreich im Jahre 1887 nicht näher lag
	        
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