198 Nas Beuische Reich und seine einjeluen Glieder. (November 14./15.)
Ich glaube, daß wir jetzt mit mehr Ruhe ins Weite blicken dürfen."
Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Die Situation in Europa und in der
Welt ist eine friedlichere geworden. Gewiß ist noch hier und da Unruhe
vorhanden. Diejenigen, die zur See gefahren sind, wissen, daß, wenn ein
Sturm die Gewässer aufgeregt hat, noch längere Zeit, auch nachdem sich
die Oberfläche wieder geglättet hat, unter der Oberfläche die Unruhe fortbesteht
und das Schiff ins Rollen und Schwanken bringt. Man nennt das die
Dünung. In der politischen Welt zittert noch eine gewisse Erregung nach,
die zur Vorsicht und Umsicht mahnt, aber keinen Anlaß zu Kleinmut gibt.
Sorgen wir dafür, daß unsere Machtmittel zu Lande und zu Wasser für
unsere Verteidigung ausreichen! Vergessen wir endlich über unseren inneren
politischen, konfessionellen und wirtschaftlichen Streitigkeiten nicht das
Interesse, die Wohlfahrt und das Recht des Ganzen, und das deutsche
Volk wird seine Stellung in der Welt zu behaupten wissen! (Lebhafter,
wiederholter Beifall.)
Abg. v. Vollmar (Soz.): Trotz Bülows Rede halte er die aus-
wärtige Lage für überaus schlecht. Zu Bismarcks Zeit sei Deutschland
gefürchtet gewesen, jetzt sei es gedemütigt; es krieche vor Rußland. Jeder
Ausländer wundere sich, wie ein so hoch entwickeltes Volk eine so unsichere
Politik dulde. Abg. Graf Limburg-Stirum (kons.) bedauert, daß seit
Caprivi die Bismarckschen Beziehungen zu Rußland gelockert seien; bei
nahen Beziehungen zu Rußland würde Italiens Unzuverlässigkeit nichts
bedeuten. Abg. Spahn (3.) billigt im allgemeinen die Darlegung des
Reichskanzlers und wünscht die Belebung des Bundesratsausschusses für
auswärtige Angelegenheiten. Abg. Wiemer (fr. Vg.) freut sich der scharfen
nationalliberalen Kritik und polemisiert gegen das persönliche Regiment.
Weshalb wohne der Staatssekretär v. Tschirschky nicht dieser Verhandlung
bei? Abg. v. Tiedemann (N.) erklärt die Zustimmung seiner Fraktion
zur Politik des Reichskanzlers.
Reichskanzler Fürst Bülow motiviert die Abwesenheit des Staats-
sekretärs mit dienstlichen Geschäften. Der auswärtige Ausschuß des Bundes-
rats werde häufig einberufen, den Regierungen gingen regelmäßige Mit-
teilungen zu. Die Diplomaten würden sorgfältig ausgewählt, sie müßten
mit allen einflußreichen Kreisen Fühlung haben. In einem sehr berühmten
Kapitel seiner „Caracteres“ hat La Bruyere ein Bild von dem Diplo-
maten entworfen, wie er sein soll. L'ambassadeur soll, sagt er, ein Cha-
mäleon sein. (Große Heiterkeit.) Ein Diplomat muß mit den gegebenen
Personen rechnen und sich die vorhandenen Umstände zunutze machen.
Bei dem diplomatischen Wettkampf um den Einfluß in einem Ort und
einem Lande ist nicht immer der moralisch höher Stehende der Ueberlegene,
sondern derjenige, der die Verhältnisse am besten zu nutzen, sich am besten
in sie zu finden weiß. Es gibt auch eine diplomatische Mimicry. Die jungen
Diplomaten sollten sich den Alcibiades zum Beispiel nehmen. Seine Lieder-
lichkeit brauchen sie ja nicht nachzuahmen. (Heiterkeit.) Eine solche Adaptions-
fähigkeit schließt einen starken und festen innerlichen Patriotismus nicht aus;
eine solche Adaptionsfähigkeit ist noch lange kein Zickzackkurs. . Ich komme
jetzt zu einem sehr ernsten Gegenstande, der von den meisten der Vorredner
gestreift worden ist, dem sogenannten persönlichen Regiment. Ich habe
einmal gesagt: Ein seiner moralischen Verantwortlichkeit sich bewußter
Reichskanzler wird nicht im Amte bleiben, wenn er Dinge nicht zu ver-
hindern vermag, die nach seinem pflichtmäßigen Ermessen das Wohl des
Reiches wirklich und dauernd schädigen. Wären solche Dinge vorgekommen,
so würden Sie mich nicht mehr an dieser Stelle sehen; denn was Sie
auch über mich denken mögen, ein Kleber bin ich nicht, dessen können Sie