Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

202 Das Denisqe Reiqh und seine einjelnen Slieder. (November 23.—28.) 
zu langsame Erschließung einzelner Schutzgebiete durch reichsfiskalische 
Kapitalsanlagen, insbesondere durch Eisenbahnen. Wenn in früheren 
Jahren nur für die Hälfte der Summe, die uns jetzt der Krieg in Süd- 
westafrika gekostet hat, Eisenbahnen in diesem Lande gebaut worden wären, 
dann hätten wir wohl niemals einen großen Aufstand erlebt und dafür 
heute eine rasch aufblühende Kolonie mit einem Eisenbahnnetz, ein wer- 
dendes Neu-Deutschland in Westafrika. Die Erfahrungen aller Kolonial-= 
völker bestätigen, daß große Kolonialgebiete ohne Eisenbahnen ein unsicherer, 
wirtschaftlich nicht erschließbarer Besitz bleiben.“ 
Die Denkschrift, die in der Presse vielfach als Inventaraufnahme 
des neuen Direktors bezeichnet wird, wird in manchen Berechnungen an- 
gegriffen. Eine positive Widerlegung wird nicht gegeben, nur eine andere 
Schätzung der Werte; eine Untersuchung der Höhe des in den Kolonien 
investierten Kapitals findet kaum statt. 
23./26. November. Der Reichstag berät den Gesetzentwurf 
über die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine in erster Lesung. Alle 
Redner außer den konservativen haben viel an dem Entwurf aus- 
zusetzen. 
24. November. (Posen.) Der Erzbischof von Posen-Gnesen, 
Florian v. Stablewski f. — Geboren 1841 in Fraustadt, 1866 
Priester, 1876 Mitglied des preußischen Landtags, 1881 päpstlicher 
Geheimkämmerer, 1890 apostolischer Protonotar, 1892 Erzbischof. 
8. November. (Preußen.) Durch Explosion einer Roburit- 
fabrik bei Witten in Westfalen werden 28 Personen getötet, an 
150 verwundet. 
W. November bis 4. Dezember. (Reichstag.) Nachtragsetat 
für Südwestafrika. — Monopolverträge, Missionen, Beamten- 
disziplin. Zusammenstoß Roeren-Dernburg: Angriffe auf Beamte; 
Nebenregierung. 
Es werden 30 Millionen Mark Kriegskosten und 8,9 Millionen Mark 
für die Eisenbahn nach Keetmanshoop gefordert. — Reichskanzler Fürst 
Bülow betont die Notwendigkeit zu kolonisieren, die aus der deutschen 
Entwickelung folge. Die augenblickliche Krisis müsse überwunden werden; 
Fehler seien von der Verwaltung gemacht, aber sie seien nicht unverbesser- 
lich. Die Neuorganisation der Verwaltung sei das erste Heilmittel, dann 
handle es sich um wirtschaftliche Hebung der Kolonien. Deshalb habe 
man bei der Wahl eines Nachfolgers für Hohenlohe an eine den kauf- 
männischen Kreisen nahestehende Persönlichkeit gedacht. Die Mitwirkung 
eines der Herren — eines unserer captain of industry, um einen ameri- 
kanischen Ausdruck zu gebrauchen — für die Geschäfte des Reichs zu ge- 
winnen, erschien mir von vornherein als vorteilhaft, und in den ein- 
gehenden Unterredungen, die ich mit Herrn Dernburg hatte, ergab sich die 
Uebereinstimmung der leitenden Gesichtspunkte und Ziele. Ich konnte 
deshalb Herrn Dernburg mit gutem Gewissen Seiner Moajestät dem Kaiser 
als Nachfolger des Prinzen Hohenlohe vorschlagen. Damit, meine Herren, 
war übrigens für mich ein alter Wunsch in Erfüllung gegangen. Schon 
als ich vor neun Jahren Staatssekretär des Aeußeren wurde und der da- 
malige Kolonialdirektor, der seitdem leider verstorbene Freiherr von Richt-
	        
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