Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 25.) 15 
lung. „Der Ausgangspunkt unseres Antrages ist bekannt. Es ist die 
Rückständigkeit der Gesetzgebung in den einzelnen Bundesstaaten. Da wir 
nicht in der Lage sind, auf diese Bundesstaaten selbst einzuwirken, so 
mußten wir die Angelegenheit im Deutschen Reichstage zur Sprache bringen. 
Und wir haben das getan in der Weise, daß wir die Freiheit der Reli- 
gionsübung, die wir für uns verlangen, unter den Schutz der allgemeinen 
Freiheit der Religionsübung stellen. Indem wir dieses tun, haben wir 
mit vollem Bewußtsein mit alten Theorien gebrochen. Das Mittelalter 
hatte andere Theorien; wir wünschen diese nicht mehr. Ich habe dieses 
schon vor zehn Jahren in unserer Literatur ausgesprochen, sehen Sie nur 
im Staatslexikon nach, und wiederholt habe ich dieses auch in Versamm- 
lungen ausgesprochen, und Sie werden mir wohl zugeben, daß ich von 
Index und Syllabus etwas verstehe. Mit Ihren Ausführungen ängstigen 
Sie uns nicht. Wir wissen, was wir tun, wir wissen, daß wir damit 
neue Sätze aufstellen. Wir wollen keine Freiheit für uns verlangen, die 
wir Andersgläubigen verwehren.“ 
In der weiteren Beratung, in der Abg. Müller erwidert, wird 
u. a. namentlich über die Intoleranz der Sozialdemokratie debattiert. 
25. Januar. (Preußisches Herrenhaus.) Interpellation 
über die Bekämpfung der Sozialdemokratie. Mahnung Bülows. 
Graf Eulenburg-Prassen begründet folgende Interpellation: Er- 
scheint es der Königlichen Staatsregierung möglich, die vaterlandsfeind- 
lichen Unternehmungen der Sozialdemokratie mit den Mitteln der bestehenden 
Gesetzgebung erfolgreich zu bekämpfen? — Die zunehmenden Bestrebungen 
der Umsturzpartei nötigten zu der Erklärung, daß die sozialdemokratische 
Partei nicht die staatsbürgerlichen Rechte in Anspruch nehmen dürfe. 
Reichen die Gesetze aus zur Bekämpfung der Sozialdemokratie? Wenn 
dies der Fall sei, seien die Interpellanten beruhigt. Ministerpräsident 
Fürst Bülow: Er verkenne die Gefahren der Sozialdemokratie nicht und 
habe die bürgerlichen Parteien wiederholt darauf hingewiesen. Die staat- 
liche Ordnung werde er schützen, wie er in den letzten Tagen bewiesen 
habe. „Vor der Tyrannei der Straße beugen wir uns nicht. Durch De- 
monstrationen und Drohungen lassen wir uns nichts abtrotzen. Exzesse, 
Pöbelexzesse und Revolutionen werden wir in Preußen, in Deutschland 
nicht dulden. Die Regierung hält — und damit beantworte ich die in 
der Interpellation gestellte Anfrage — die Regierung hält eine Vermeh- 
rung ihrer Befugnisse bis jetzt nicht für nötig. Von ihren gesetzlichen 
Befugnissen aber wird sie entschlossen Gebrauch machen. (Beifall.) Meine 
Herren! Staatsfeindlichen Bestrebungen gegenüber hat aber nicht nur die 
Regierung Pflichten. Der Herr Vorredner hat an das Wort der Römer 
„cavennt consules“ erinnert, d. h. Reichskanzler ergreife die Offensive, er- 
greife außerordentliche Maßregeln, zeige der Revolution den starken Arm 
des Staates! Meine Herren! Die Entscheidung darüber, wann der Augen- 
blick gekommen ist, an die gesetzgebenden Körperschaften zu appellieren, um 
verstärkte Machtmittel gegenüber revolutionären Umtrieben zu fordern, 
muß der verantwortlichen Regierung überlassen bleiben. (Beifall und Sehr 
richtig!) Anzeichen, Aeußerungen von Nervosität, wie sie hier und da in 
der Presse hervortreten, schaden der guten Sache, nützen dem Gegner, in- 
dem sie den Glauben erwecken können, als wenn es ihm ein leichtes wäre, 
unter dem gegenwärtigen Rechtszustand sein Ziel zu erreichen. Mehr, viel 
mehr nützen die Presse und die Parteien der gemeinsamen Sache, wenn 
sie angesichts des gemeinsamen Gegners den inneren Streit untereinander 
zum Schweigen bringen und den Zusammenschluß aller bürgerlichen Ele-
	        
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