Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

234 Ns Venische Reich und seine eintelnen Glieder. (Dezember 31.) 
mußte kommen, um das französische Volk von der Schreckensherrschaft der 
Jakobiner und Kommunisten zu befreien. Als nun das Zentrum sogar 
bei einer Angelegenheit, die die deutsche Waffenehre und unser Ansehen 
vor der Welt berührte und unmittelbar nach der freimütigen Aussprache 
über unerträgliche Einmischungen in den inneren Kolonialdienst eigen- 
willig den verbündeten Regierungen eine unannehmbare Klausel aufzu- 
nötigen suchte, und als es dann mit Hilfe der Sozialdemokratie einen 
sachgemäßen freisinnigen Antrag niederstimmte, mußte von dem verfassungs- 
mäßigen Mittel zur Wahrung der Autorität der Regierung Gebrauch ge- 
macht und der Reichstag aufgelöst werden. Die Abstimmung vom 13. De- 
zember war ein Schlag gegen die verbündeten Regierungen und die natio- 
nale Würde. Ich arbeite mit jeder Partei, welche die großen nationalen 
Gesichtspunkte achtet. Wo diese Gesichtspunkte mißachtet werden, hört die 
Freundschaft auf. Niemand in Deutschland will ein persönliches Regiment. 
Die große Mehrheit des deutschen Volkes will aber erst recht kein Partei- 
regiment. Es ist deutsche Eigenart, deutsches Schicksal, daß wir unsere 
politische Stellung bis zur Stunde der Gefahr lieber nach Gefühlen und 
allgemeinen Begriffen, als nach realen Interessen und nationalen Zielen 
nehmen. Obgleich es für Kaiser und Bundesfürsten nicht Katholiken und 
Protestanten, sondern nur schlechtweg Deutsche gibt, die den gleichmäßigen 
Schutz der Gesetze genießen, besteht doch die stärkste Partei im Reichstage 
ausschließlich aus Katholiken. „Für Wahrheit, Freiheit und Recht“ steht 
im Programm des Zentrums. Ist es aber wahr, wenn es in dem Auf- 
ruf der hheinischen Zentrumspartei heißt, im Hintergrund lauere ein neuer 
Kulturkampf? Im paritätischen Deutschland geht es der katholischen Kirche 
wohler, als in wanchen katholischen Ländern, und kein Vertreter der ver- 
bündeten Regierungen denkt daran, die Parität aufzuheben, die Gewissens- 
freiheit zu verletzen und die katholische Religion zu bedrängen. In jener 
Behauptung dient die Religion nur als Mittel zum Schutze politischer 
Fraktionsinteressen. Obgleich es ferner keinen Staat gibt, der mehr für 
Gegenwart und Zukunft der Arbeiter, für ihre materiellen und geistigen 
Bedürfnisse getan hätte als das Deutsche Reich, obgleich die deutschen Ar- 
beiter die bestgebildeten der Welt sind, halten doch Millionen bewußt oder 
als Mitläufer zu einer Partei, die den Staat und die Gesellschaft von 
Grund aus umwälzen will. Von solchem Druck muß das deutsche Volk sich 
freimachen. Der liberale Städter und Landmann ist daran nicht weniger 
beteiligt als der konservative. Mögen die Verhältnisse in den einzelnen 
Wahlkreisen noch so große Verschiedenheiten aufweisen, die Parteien, die 
am 13. Dezember an der Seite der Regierung standen, werden von vorn- 
herein im Auge zu behalten haben, was sie damals einigte: der Kampf 
für Ehr' und Gut der Nation gegen Sozialdemokraten, Polen, Welfen 
und Zentrum. Ich stelle die Sozialdemokraten voran, weil jede Nieder- 
lage der Sozialdemokratie eine Warnung für ihren blinden Uebermut, 
eine Stärkung des Vertrauens in den ruhigen Fortschritt unserer inneren 
Entwickelung und eine Befestigung unserer Stellung nach außen wäre, und 
weil dadurch zugleich die Möglichkeit erschwert würde, daß eine bürgerliche 
Partei mit Hilfe der sozialdemokratischen eine dominierende Stellung gegen 
die anderen bürgerlichen Parteien einnimmt. Der Reichskanzler. Bülow.
	        
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