Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Vie üsterreichischungarische Menarchie. (Mai.) 253 
Erfolg hänge aber von dem Rückhalte ab, den das Haus der Regierung 
zu bieten gewillt sei. 
Mai. Differenzen zwischen Österreich und Ungarn über die 
Handelspolitik. 
Der autonome Zolltarif, auf Grund dessen die neuen Handels- 
verträge abgeschlossen worden sind, muß von dem ungarischen Parlament 
noch angenommen werden, was in Oesterreich bereits geschehen ist. Die 
ungarische Regierung ist hierzu bereit, sie will aber nicht, wie das öster- 
reichische Gesetz, den Zolltarif bezeichnen als einen „allgemeinen Zolltarif 
für das österreichisch-ungarische Gebiet“, als einen „Zolltarif, der für das 
gemeinsame Zoll- und Handelsgebiet der österreichisch--ungarischen Monarchie 
gelten und dessen Gültigkeit sich auf die Dauer des Zoll= und Handels- 
bündnisses erstrecken soll“. Hiernach ist überall im Gesetze Voraussetzung, 
daß es sich um einen gemeinsamen Zolltarif auf Grund eines gemeinsamen 
Zoll= und Handelsgebietes, und auf Grund des Zoll= und Handelsbünd- 
nisses handelt. Die ungarische Regierung will nun den gemeinsamen Zoll- 
tarif in einen solchen für das ungarische Zollgebiet umwandeln, der in- 
haltlich gleichlautend mit dem österreichischen sei; es soll auch ausdrücklich 
ein Zolltarif für Oesterreich und Ungarn sein, aber doch als „selbständiger 
ungarischer Zolltarif“ ins Leben treten. — Anscheinend soll hierdurch ein 
selbständigess ungarisches Wirtschaftsgebiet vorbereitet werden. Sachlich wird 
damit gegen den bisherigen Zustand nichts geändert — die Monarchie 
bleibt auch unter diesen Umständen ein einheitliches Zollgebiet; der Idee 
nach wäre aber der entscheidende Schritt zur Trennung heute, zehn Jahre 
bevor sie Ereignis wird oder werden soll, bereits getan. Nach Ablauf der 
Handelsverträge hätte es Ungarn in der Hand, einen eignen Zolltarif zu 
erlassen und eigne Handelsverträge abzuschließen. — Die österreichische Re- 
gierung opponiert scharf gegen diese Absicht und droht mit dem Rücktritt, 
falls der Kaiser den ungarischen Standpunkt billigt. Prinz Hohenlohe ist 
nicht unbedingt gegen die Absicht, die bisherige Zollgemeinschaft zwischen 
Oesterreich und Ungarn zu lösen, und beiden Hälften der Monarchie in 
den Zollfragen künftighin volle Freiheit zu gewähren. Er verlangt nur, 
daß dies offen und in aller Form bei einer umfassenden Neuordnung der 
wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Reichshälften geschehe. 
Mai. Stimmen über den bevorstehenden Besuch Kaiser Wil- 
helms und das Bündnis mit Deutschland. 
Das „Fremdenblatt" schreibt (9. Mai): „Für die ersten Tage des 
nächsten Monats steht uns ein Besuch des Deutschen Kaisers bevor. Der 
Besuch erfolgt auf die eigene Initiative Kaiser Wilhelms, der den Wunsch 
hatte, unserem Monarchen, seinem kaiserlichen Freund, den er nun schon 
seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen hat, wieder einmal die Hand zu 
drücken. Die Tagespolitik ins Spiel zu bringen, um das Erscheinen 
Kaiser Wilhelms in Wien zu erklären, ist überflüssig, und wie versichert 
wird, soll in dem äußeren Verlaufe des Zusammentreffens der unpolitische 
Charakter desselben zutage treten. Vollständig läßt sich freilich auch ein 
ganz intimer Besuch des verbündeten Herrschers von der Politik nicht los- 
lösen, da gerade die Intimität der persönlichen Beziehungen zu den Ele- 
menten der Festigkeit des Bündnisses gehört, das die Staaten vereinigt. 
... Darum wird es immer einen tiefen Eindruck machen, wenn die Ober- 
häupter der Staaten, die es vereinigt, sich, sei es auch nur aus perfön- 
lichen Gründen, begegnen. Wenn die Monarchen zusammenkommen, ist 
der Bündnisgedanke mit ihnen.“
	        
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