Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

256 Die ästerreiihisch · ungarische Monarhie. (Mai 29.) 
mittag eine Sitzung abzuhalten. — Nach Wiederaufnahme der Besprechung 
teilt Prade dann mit, daß der Präsident des Abgeordnetenhauses erklärt 
* er sei angesichts der Demission des Kabinetts nicht in der Lage, 
eute oder morgen eine Sitzung einzuberufen, werde dies aber in den 
nächsten Tagen im Einvernehmen mit den Obmännern der Klubs tun. 
Prade fügt hinzu, daß die Obmänner bereits zu einer Konferenz zusammen- 
getreten seien. Man möge dieser die Lösung der Frage vertrauensvoll 
überlassen. Ein Antrag des Abg. Schönerer (alldeutsch), dem Präsidenten 
das Mißtrauen auszusprechen, wird abgelehnt, und die Versammlung hier- 
auf geschlossen. — In der Konferenz der Obmänner, in der sämtliche Par- 
teien mit Ausnahme der Alldeutschen 'vertreten waren, wird beschlossen, 
morgen eine Sitzung abzuhalten. Die Vertreter der deutschen Fortschritts- 
partei und des Zentrumsklubs geben ihrem Bedauern über den Rücktritt 
des Prinzen zu Hohenlohe und ihrer Genugtuung über dessen Haltung 
gegenüber Ungarn Ausdruck. Der Zentrumsklub bezeichnet es als Pflicht 
aller Parteien, sich unter Zurückstellung alles Trennenden zur gemeinsamen 
Abwehr gegen die die Macht, das Ansehen und die Wohlfahrt der Mon- 
archie bedrohenden Forderungen Ungarns zusammenzuschließen. Es wird 
ein aus acht Mitgliedern bestehender Unterausschuß eingesetzt, welcher be- 
auftragt wird, einen scharf abgefaßten Dringlichkeitsantrag, der zur poli- 
tischen Lage Stellung nimmt, vorzubereiten. Der Antrag soll heute abend 
einer neuen Obmännerkonferenz vorgelegt und in der für morgen ver- 
langten Sitzung des Abgeordnetenhauses eingebracht werden. Die Ob- 
männer sollen für die einmütige Annahme des Antrages in dieser Sitzung 
Sorge tragen. Falls durch Vertagung des Hauses die morgige Sitzung 
unmöglich werden sollte, sollen die Obmänner auf ihre Klubmitglieder in 
dem Sinne einwirken, daß sämtliche Mitglieder, die in die Delegation 
gewählt sind, ihre Mandate niederlegen. Die zweite Obmännerkonferenz 
mißbilligt zwar die Absage der Sitzung, erkennt aber die bona fides des 
Präsidenten an. Graf Vetter behält infolgedessen das Präsidium, das er 
nach den ersten Erörterungen niederlegen wollte. — Der Dringlichkeits- 
antrag, den die Obmänner beschließen, protestiert, daß der durch die rechts- 
kräftige Veröffentlichung des gemeinsamen Zolltarifs mit schweren Opfern 
für die westliche Reichshälfte erkaufte Rechtszustand durch das Vorgehen 
der ungarischen Regierung ohne Zustimmung des Reichsrats geändert 
werde, und fordert, daß keine Veränderung ohne Befragung des Reichs- 
rats geschehe. 
Am 30. begründet Abg. Dr. Kathrein den Dringlichkeitsantrag. 
In dem Augenblicke, wo sich Ungarn anschicke, zum Nachteile Oesterreichs 
die gemeinsamen Beziehungen zu lockern und zu lösen, dürfe das Haus 
nicht zugeben, daß über das Recht der Bevölkerung Oesterreichs ohne das 
Haus irgendwie verfügt werde. Sobald die Verhältnisse es erheischten, 
müsse das Haus einberufen werden. — Die meisten Parteien stimmen dem 
Antrag unter scharfen Angriffen auf Ungarn zu. Abg. Dr. Lueger erklärt, 
solange der frühere Zustand in den gemeinsamen Angelegenheiten nicht 
wiederhergestellt sei, gebe es bei den Christlich-Sozialen keinen Kreuzer 
für die gemeinsamen Ausgaben und keinen Rekruten. — Der Antrag 
wird mit 240 gegen 8 Stimmen (Alldeutsche und Tschechisch-Radikale) an- 
genommen. 
29. Mai. (Ungarn.) Abgeordnetenhaus. Zolltarif, Handels- 
verträge. Regierungsprogramm. 
Es wird ein Gesetzentwurf betreffend den Zolltarif eingereicht, ferner 
ein Gesetz, welches die Regierung ermächtigt, die mit Deutschland, Italien,
	        
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