20 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 5. 6.)
4. Die einschlägige Gesetzgebung ist einer durchgreifenden Revision zu
unterziehen. Insbesondere muß der Gedanke zum Ausdruck gelangen,
daß die Schaffung leistungsfähiger Landgemeinden in der Regel das Ziel
des Besiedelungsverfahrens zu bilden hat. 5. Jede nicht durch Erbaus-
einandersetzung gebotene Aufteilung land- und forstwirtschaftlich genutzter
Grundstücke bedarf außer der Ansiedelungsgenehmigung der Genehmigung
der Besiedelungsbehörde. Diese Genehmigung ist zu versagen, wenn die
Art der Teilung den Landeskulturinteressen widerspricht. 6. Der gewerbs-
mäßige Betrieb des Handels mit ländlichen Grundstücken ist auf Grund
des § 35 Abs. 3 und § 38 Abs. 2 der Gewerbeordnung unter Aufsicht zu
stellen. 7. Die Durchführung der inneren Kolonisation ist einer durch
zweckentsprechende Reform der Generalkommission zu schaffenden Besiede-
lungsbehörde (Ober-Landeskulturamt) zu übertragen. 8. Die bedeutsamen
staatlichen, sozialen und nationalen Zwecke, welche durch die innere Kolo-
nisation gefördert werden, rechtfertigen eine finanzielle Beteiligung des
Staates.
5. Februar. (Bayern.) Die Reichsratskammer genehmigt
einstimmig den Wahlgesetzentwurf. Prinz Ludwig sagt in der Be-
ratung:
Jeder würde wohl an dem Entwurfe einiges auszusetzen haben;
beispielsweise wäre es ihm lieber gewesen, wenn als Grundlage des neuen
Wahlgesetzes die jeweilige letzte Volkszählung genommen, und wenn lauter
einmännige Wahlkreise gebildet worden wären; allein dann hätte die Wahl-
kreiseinteilung der Regierung überlassen werden müssen; denn es wäre
unmöglich, nach jeder neuen Volkszählung eine neue gesetzliche Wahlkreis-
einteilung zu machen. Alle Abänderungsanträge, welche man jetzt ein-
bringe, würden mit der Ablehnung des Entwurfes gleichbedeutend sein.
Der Ausfall der letzten Wahlen und die kürzlich erfolgte einstimmige An-
nahme des Wahlgesetzentwurfes in der Kammer der Abgeordneten hätten
gezeigt, daß das Land ein neues Wahlgesetz wolle. Alle Abänderungs-
wünsche müßten jetzt zurücktreten vor dem Gedanken, daß, wenn der Reichs-
rat jetzt seine Zustimmung gäbe, ein Gesetz zustande komme, mit welchem
die große Mehrheit des Landes zufrieden sei.
6. Februar. (Reichstag.) Sozialpolitik; Wirkung auf die
Arbeiter; christliche Gewerkschaften; englische Arbeiter in Deutschland.
Abg. Graf Kanitz (kons.) wünscht langsames Fortschreiten der
Sozialreform, weil sie große Lasten mit sich bringe; in Ostpreußen z. B.
absorbierten die öffentlichen Lasten oft mehr als den halben Reinertrag.
Eine Versöhnung der Sozialdemokratie werde man nicht erreichen, nur
ihre Ansprüche steigern. Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky:
.. Wenn man die sozialpolitische Gesetzgebung Deutschlands, bei der sich
Mißstände auf manchem Gebiet unzweifelhaft herausgestellt haben, so viel-
fach scharf angegriffen hat, so sollte man eins nicht vergessen: Um Dank-
barkeit zu erwerben, gibt kein Staat Gesetze. (Zustimmung.) Das ist ein
individuelles Gefühl, das liegt auf sittlichem Gebiet, nicht auf streng staats-
rechtlichem Gebiet. Wenn nun von sozialdemokratischer Seite die segens-
reichen Folgen der deutschen Sozialpolitik in Abrede gestellt werden, so
muß ich doch auch fragen, welche Verhältnisse hätten sich vielleicht ent-
wickelt, wenn man zu jener Zeit, als die erste Allerhöchste Botschaft er-
ging, eine Sozialpolitik nicht eingeschlagen hätte bei unserer ungeheuer
wachsenden industriellen Bevölkerung. Es ist mir von sehr kompetenten