Das Dentsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 6.) 21
Industriellen versichert worden: wenn Deutschland einen solchen indu-
striellen Aufschwung genommen hat, einen Ausschwung, wie in keinem
Lande Europas in den letzten Jahrzehnten, so verdankt es dies unzweifel-
haft seinem Arbeiterpersonal. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
Auf seine Bildung, seine Haltung, seine geistige und körperliche Tätigkeit
hat die sozialpolitische Gesetzgebung ganz außerordentlich eingewirkt. Mir
hat ein Vertreter der großen chemischen Industrie gesagt, was wir in der
chemischen Industrie in Deutschland erreicht haben, konnten wir nur tun
mit Arbeitern wie den deutschen, deren Lebensstand und äußere Haltung
gehoben worden ist durch die soziale Gesetzgebung unseres Vaterlandes.
Es ist behauptet worden, die christlichen Gewerkschaften wären noch schlim-
mer wie die sozialdemokratischen. Es scheint Kreise zu geben, die sich der
Hoffnung hingeben, daß in unserer großen industriellen Entwicklung die
Arbeiterbewegung in Deutschland aufhören könnte. Wer glaubt, daß in
unserer modernen Zeit, wo die Arbeiter das Bestreben haben, ihre Lebens-
lage zu verbessern und sich in höherem Maße an den öffentlichen An-
gelegenheiten zu beteiligen, wer also glaubt, daß unter unserer gegen-
wärtigen großen, modernen industriellen Entwicklung, solange sie anhält,
diese Arbeiterbewegung jemals aufhören würde, befindet sich in einem
starken Irrtum. (Lebhafte Zustimmung.) Man kann eine solche Auf-
fassung nur haben, wenn man von einem qualitativ ziemiich eng begrenzten
Interessenstandpunkt eine solche Frage aufwirft. (Lebhafte Zustimmung.)
Das ist ja gerade der Unterschied zwischen der berechtigten und unberech-
tigten Arbeiterbewegung, daß die Sozialdemokratie Forderungen stellt, die
weder im Gegenwarts- noch im Zukunftsstaat noch in irgend einem Staate
der Welt ausgeführt werden können, denn sie würden zu einem Zusammen-
bruch unseres ganzen wirtschaftlichen Lebens und des Staates führen.
(Lebhafte Zustimmung.) Weil die Sozialdemokratie davon überzeugt ist,
daß der Gegenwartsstaat und kein Staat der Welt ihre Forderung aus-
führen können, erklärt sie: Der bestehende Staat muß beseitigt und ein
Zukunftsstaat gegründet werden. Wie dieser aussehen soll, davon habe ich
wenigstens keinen Begriff. Nun ist aber doch eins gewiß: Wenn eine
Arbeiterbewegung besteht und sich entwickelt, wenn sie dafür eintritt, daß
die Arbeitslöhne vermehrt werden und dafür, daß die Arbeiter sich in
größerem Maße auch an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen, so
kommt es darauf an, ob dies Ziel in dem bestehenden monarchischen Staat,
innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, verfolgt wird. Wenn wir gegen-
über den drei Millionen sozialdemokratischer Stimmen Fortschritte machen
wollen in der Bekämpfung der Sozialdemokratie in der Richtung, daß wir
eine Arbeiterpartei schaffen, die innerhalb des gegenwärtigen modernen
Staates, innerhalb der wirtschaftlichen Grenzen ihre Wünsche verfolgt,
dann haben wir doch den allerdringendsten Wunsch, eine solche Arbeiter-
bewegung, wie es die christliche ist, zu unterstützen. (Beifall.) Der Stand-
punkt, daß die christliche Arbeiterbewegung viel unangenehmer ist wie die
sozialdemokratische, ist ein Standpunkt von Männern, denen jede Forde-
rung der Arbeiter, wenn sie auch noch so berechtigt ist, unsympathisch ist.
Diese Stellung mancher Herren den christlichen Gewerkschaften gegenüber
erinnert an die Stellung mancher Minister, die sich nach der Kritik ihrer
wohlvorbereiteten Vorlagen an die selige Zeit der Minister des absoluten
Staates zurückerinnern (Heiterkeit) — an die Zeit der großen absoluten
Minister Richelieu, Mazarin, Kaunitz und Metternich — aber die Zeiten
sind vorbei (Heiterkeit), sie kehren nie wieder! Von diesen Gottheiten ist
nur noch ein Schatten übrig. Ebenso gibt es Sozialpolitiker, denen jede
Arbeiterbewegung unsympathisch ist, denen sie auf die Nerven fällt, und