Frankreich. (Mai 31.—Juni 12.) 317
Es werde infolge des von den einzelnen Ministern aufgestellten Aus-
gabeetats ein Fehlbetrag von 230 Millionen aufzuweisen sein. Dieser werde
verursacht 1. durch neue Ausgaben von 40 Millionen für das Marine-
ministerium und 30 Millionen für das Kriegsministerium; 2. durch die
Summe von 70 Millionen, welche für die Durchführung verschiedener Ge-
setze, insbesondere des Gesetzes betreffend die obligatorische Unterstützung
der Greise erforderlich ist, und 3. durch Mindereinnahmen des laufenden
Budgetjahres, zu deren Deckung 90 Millionen nötig sind.
31. Mai. (Paris.) Eine Versammlung von 74 französischen
Erzbischöfen und Bischöfen berät über die Bildung von Kultus-
vereinigungen.
1. Juni. Die Kammer tritt zusammen und wählt Brisson
zum provisorischen Präsidenten. Am 8. wird er mit 382 von
428 Stimmen zum definitiven Präsidenten gewählt.
12. Juni. (Kammer.) Ministerpräsident Sarrien verliest
eine programmatische Erklärung des Kabinetts:
Es sei das Programm des Ministeriums gewesen, die Einigung der
Republikaner zu sichern, um im Lande wieder Ordnung und Frieden herbei-
zuführen. Gestützt auf das Vertrauen der Wähler, habe die Regierung
ihre Aufgabe erfüllt. Frankreich habe bei den letzten Wahlen schlagend
bewiesen, daß es gewillt sei, die republikanischen Einrichtungen aufrecht zu
erhalten, zu stärken und zu entwickeln, und daß es eine Politik des Fort-
schrittes und der Reformen zu verfolgen gedenke. Die Ordnung sei wieder-
hergestellt worden, die aufrührerischen Vorkommnisse, die sich gelegentlich
der Kircheninventaraufnahme zugetragen, hätten aufgehört. Die Ausstände
seien beinahe beendet und auch die Wahlkämpfe seien vorüber. Die Re-
gierung schlage vor, die gesetzgeberische Arbeit durch die Bewilligung einer
allgemeinen Amnestie würdig einzuleiten. Die republikanische Partei möge,
nachdem sie ihre Kraft bewiesen habe, Mäßigung und Edelmut zeigen.
Die erste Frage, die die Aufmerksamkeit des Parlaments in Anspruch nehme,
sei die gebieterische Notwendigkeit, ohne zu neuen Ausgleichsmitteln zu
greifen, das Gleichgewicht des Budgets herzustellen. Die Regierung werde
zu diesem Zweck die Durchführung aller irgend möglichen Ersparnisse for-
dern und Vereinfachungen in der Verwaltung vorschlagen. Sie werde auch
Steuerreformen in einer Vorlage bringen, namentlich eine allgemeine Ein-
kommensteuer, die keinen inquisitorischen Zug trage und weder das Eigen-
tum noch die individuelle Freiheit antasten werde. Das Gesetz betreffend
die Trennung von Kirche und Staat werde mit Festigkeit und ohne einen
Hintergedanken von Vergeltungsmaßnahmen durchgeführt werden. Die Re-
gierung werde die vollständige Verweltlichung der Schulen planmäßig durch-
führen und die gänzliche Abschaffung des Fallouxschen Gesetzes beantragen.
Ferner werde sie eine Reform der Kriegsgerichte und der Marinegerichte
vorschlagen. Für die Berufsvereine werde das Recht, Eigentum zu be-
sitzen und als handelsrechtliche Persönlichkeit aufzutreten, beantragt werden.
Die Regierung werde vorschlagen, die Vorteile des Gesetzes von 1884
(Syndikatsgesetz) auf weitere Kategorien von Staatsbürgern auszudehnen,
sie werde aber den Staatsbeamten das Recht zum Ausstande versagen.
Die Regierung halte es für notwendig, auf Mittel zu sinnen, um die
Wiederkehr von Konflikten zwischen Kapital und Arbeit, wie sie in der
jüngsten Zeit vorgekommen seien, zu verhüten. Die Regierung sei auch