Frankreich. (Juni 18./19.) 319
Zusammenkünfte, die er mit den Vertretern der Bergwerkgesellschaften ge-
habt habe, um für die Sache der Arbeiter einzutreten. Den Führern der
Sozialisten werfe er vor, daß sie den Arbeitern nicht die Achtung vor dem
Gesetze lehrten. Er wolle die Arbeiter verteidigen trotz der Sozialisten
und gegen dieselben. (Beifall bei den Radikalen und im Zentrum.) Er
richte an Jaures die Frage, ob dieser, wenn er Minister des Innern wäre,
gestatten würde, daß Häuser der Bergarbeiter geplündert würden. Es war
nötig, am 1. Mai die Ordnung in Paris unter allen Umständen aufrecht-
zuerhalten, es stehe fest, daß unter den 650 auf der Place de la Répu-
bligue Verhafteten sich 33 vorbestrafte Personen und 76 Ausländer be-
funden hätten... Das Bestreben des Arbeiters, seine Lage auch durch
das Mittel des Streiks zu verbessern, sei unzweifelhaft voll berechtigt, aber
kein Streikender habe das Recht, einen Berufsgenossen, der Familienlasten
zu tragen habe, und deshalb weiter arbeiten wolle oder müsse, zum Feiern
zu nötigen. Das Programm der Sozialisten decke sich zu einem sehr er-
heblichen Teile mit dem der bürgerlichen Radikalen, seiner Parteifreunde.
Das gelte vom achtstündigen Arbeitstag, der progressiven Einkommensteuer
und der Verstaatlichung der großen Monopole. Man solle doch zunächst
mit dem Ankauf eines einzelnen Eisenbahnnetzes beginnen, sowie mit der
Vorbereitung des Gesetzes über den Arbeitsvertrag. Was die weiter-
gehenden Forderungen der Sozialisten betrifft, so z. B. das Enteignungs-
verlangen, so werde er, der Minister, dieselben prüfen, wenn Jaures sie
formuliert haben werde. Er sei indes der Ueberzeugung, daß das indivi-
duelle Eigentum noch lange Zeit bestehen und noch mancherlei Wandlungen
durchmachen werde. Uebrigens hege man bezüglich dieser Frage auch im
sozialistischen Lager verschiedene Ansichten. Nach einem Artikel des deutschen
Sozialisten Bernstein sei von der Bewegung in der Richtung der sozialen
Gerechtigkeit nicht viel zu erhoffen. Manche Theorien der französischen
Sozialisten seien von den Deutschen entlehnt. Auch Christus habe die
Menschheit erneuern wollen, aber Gewalttätigkeiten und Blutvergießen seien
dessen ungeachtet nicht aus der Welt verschwunden. Nicht die Form der
Gesellschaft, sondern den Menschen müsse man bessern. Der besser ge-
wordene Mensch werde seinen Gesellschaftskreis zu wählen wissen.. Wir
wollen im Verein mit den Sozialisten die Steuern erörtern, die zum Zwecke
der Einführung der Altersversorgung der Arbeiter geschaffen werden müssen.
Wenn es sich dann aber darum handeln wird, das Budget zu bewilligen,
dann werden sich die Sozialisten dieser Pflicht entziehen. Das ist nicht
loyal. (Langanhaltender Beifall.) Er hoffe es übrigens noch zu erleben,
daß die Sozialisten aufhören werden, seine Gegner zu sein, und daß sie
zu ihm zurückkehren werden. Er vergleiche sie mit denjenigen Frauen,
die ihrem Gatten immer drohen, sie würden zu ihrer Mutter zurückkehren,
und es doch niemals tun.. Ich errege mich nicht über den Tadel-
antrag, den die Sozialisten gegen mich einbringen wollen. Jaures ver-
kennt die Republik, obwohl er doch einer ihrer besten Vorkämpfer und
Mitarbeiter ist. Wenn die Sozialisten mit uns arbeiten wollen, so werden
wir ihnen die Hände reichen und ihnen sagen: „Laßt uns zusammen-
arbeiten!“ Wenn sie es ablehnen, werden wir allein vorgehen und tapfer
die Verantwortung dafür tragen. (Wiederholter Beifall auf der Linken
und im Zentrum.) — Auf Antrag des Abg. Maujan beschließt die Kammer
mit 365 gegen 68 Stimmen, die Rede Clémenceaus überall öffentlich an-
schlagen zu lassen. ··
Abg. Jaurès: Die Sozialisten seien bereit, im Verein mit der
Regierung das Reformwerk fortzuführen, soweit ihre Ueberzeugung es ihnen
gestatte. Entgegen Clémenceau, der das Individuum von der sozialen