Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 7.) 25 
dings ist das Wahlrecht vieler Einzelstaaten reformbedürftig, und in diesem 
Sinne hat sich auch meine Partei in den Einzellandtagen verhalten. Aber 
das Reich ist in dieser Frage nicht zuständig. Uebrigens ist das größte 
Hindernis für die Einführung von besseren Wahlrechtsgesetzen in den Einzel- 
staaten die Sozialdemokratie selbst. Abg. Träger (fr. Vp.): Der Reichs- 
tag sei zuständig für diese Frage; die Einführung des Reichstagswahlrechts 
in den Einzelstaaten sei dringend zu wünschen; u. a. habe sich Prinz Lud- 
wig von Bayern dafür ausgesprochen. 
Staatssekretär Graf Posadowsky: Gegenüber dem Antrag, der 
von der sozialdemokratischen Partei gestellt ist, und gegenüber den Aus- 
führungen, die wir heute dazu gehört haben, möchte ich mir gestatten, 
einiges über die psychologische Entstehung des allgemeinen Wahlrechts im 
Deutschen Reiche zu sagen. Man kann wohl sagen, Fürst Bismarck ist der 
Schöpfer des allgemeinen Wahlrechts, Fürst Bismarck hatte das allgemeine 
Wahlrecht in Frankreich kennen gelernt, als er während seiner Tätigkeit 
als Gesandter in Paris war. Die napoleonische Herrschaft, die sich auf 
dem Plebiszit aufbaute, war damals im Zenit ihres Ruhmes und ihrer 
Stärke. Unter diesen Verhältnissen hatte Fürst Bismarck die Wirkung des 
allgemeinen Wahlrechts kennen gelernt. Aber Fürst Bismarck hat bei der 
Anwendung des allgemeinen Wahlrechts infolge der Verschiedenheit des 
deutschen und des französischen Volkes doch einen Rechenfehler gemacht. In 
Frankreich ist die Nation unter allen Regierungen an eine sehr straffe 
Zentralisation gewöhnt, und die Behörden haben in Frankreich unter jeder 
Regierung einen unendlich größeren Einfluß auf die Massen, als es jemals 
das deutsche Volk ertragen würde. Die französische Bevölkerung ist nicht 
annähernd so individualistisch angelegt wie die deutsche. Romanen sind 
eben ganz anders, und selbst eine Regierung in Deutschland, die das vollste 
Vertrauen der Bevölkerung hat, wird nie in dieser Weise in Deutschland 
von der Bevölkerung unterstützt werden wie in Frankreich von der Mehr- 
heit eine Regierung unterstützt wird, die das Vertrauen der Bevölkerung 
hat Das sind zwei vollkommen verschiedene Nationalcharaktere. Als Fürst 
Bismarck das allgemeine Wahlrecht in Deutschland einführte, hatte er, glaube 
ich, eine sehr lebhafte Erinnerung an die Kämpfe in der Konfliktszeit in 
Preußen. (Sehr richtig!l) Er hatte einen gewissen inneren Groll gegen die 
bürgerliche Demokratie, die die Stütze des Konflikts in Preußen war. Er 
glaubte deshalb, er würde die Wirkungen der Demokratie durch das all- 
gemeine Wahlrecht dauernd überwinden. Solche Zustände, wie sie sich in 
Preußen entwickelt hatten, werden sich bei dem Wahlrecht im Reiche nie 
wiederholen. Er glaubte ferner, gestützt auf die Erfahrungen, die in Frank- 
reich bei dem allgemeinen Wahlrecht gemacht waren, daß der Reichstag 
immer von einer Bevölkerung gewählt würde, die für Zwecke der Landes- 
verteidigung unter allen Umständen die nötigen Mittel bewilligen würde. 
In dieser Beziehung haben sich die Hoffnungen, die Fürst Bismarck an das 
allgemeine Wahlrecht geknüpft hat, nicht erfüllt, denn eine große Partei 
des Hauses, die auf Grund des allgemeinen Wahlrechts ihre Organisation 
ausgebildet hat, hat wiederholt und bei verschiedenen Gelegenheiten die 
schärfste Opposition gegen die Forderungen gemacht, die sich auf die Landes- 
verteidigung beziehen. Die Erfahrungen, die Fürst Bismarck mit dem all- 
gemeinen Wahlrecht machte, wirkte im Laufe der Zeit verstimmend, und 
er hat bekanntlich die Aeußerung getan: „Wenn das deutsche Volk, falls 
das allgemeine Wahlrecht sich nicht bewährt, nicht die Kraft hat, das all- 
gemeine Wahlrecht zu beseitigen, dann habe ich mich getäuscht, wenn ich 
sagte, ich brauche das deutsche Volk nur in den Sattel zu heben, reiten 
würde es schon können.“ Es liegt keine urkundliche Aeußerung des Fürsten
	        
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