26 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 7.)
Bismarck vor — wenigstens ist mir eine solche nicht bekannt — die die
Absicht erkennen ließe, das allgemeine Wahlrecht zu ändern oder aufzu-
heben. Nun gehen Sie gegen das preußische Wahlrecht vor, weil es ein
Dreiklassenwahlrecht ist. Sie nennen es ein brutales Wahlrecht. Ich
selbst habe mit dem verstorbenen Reichskanzler Fürsten Hohenlohe im
Kaiserhof hier in Berlin in der dritten Klasse gewählt mit unseren Por-
tiers aus der Wilhelmstraße. (Heiterkeit.) Ich kann Ihnen sagen, ich habe
mich nicht im mindesten degradiert gefühlt. Besitz ist keine Tugend, Besitz
ist meistens auch kein Verdienst, aber er ist eine sehr angenehme Tatsache.
(Heiterkeit.) Fürst Bismarck hat allerdings das preußische Wahlrecht das
elendeste aller Wahlrechte genannt, aber auch in dieser Beziehung ist mir
keine urkundliche Tatsache bekannt, nach der Fürst Bismarck irgendwie den
Anfang eines Versuches gemacht hätte, dieses Wahlrecht zu ändern. Nun
gestehe ich Ihnen eins gern zu: Es liegt eine gewisse Dissonanz darin, daß
im Reichstage ein anderes Wahlrecht besteht wie für die Präsidialmacht
Preußen. In keinem konstitutionellen Staat kann eine Regierung fort-
gesetzt gegen eine Majorität kämpfen. Man kann, wenn man glaubt, daß
die Majorität das nicht leistet, was zur Erhaltung des Staates notwendig
ist, ein Haus auflösen. Es mag Regierungen geben können — solche Fälle
haben wir in der Geschichte — die schließlich zum Staatsstreich greifen,
oder wenn eine Regierung das nicht will, daß sie sich schließlich unterwirft.
Was aber ein Staatsstreich bedeutet, darüber bitte ich Sie alle und nament-
lich die Vertreter der Parteien, die manchmal mit solchen Gedanken spielen,
die denkwürdige Schrift des verstorbenen Ministers v. Manteuffel, meines
Erachtens eines der bedeutendsten Staatsminister, die Preußen gehabt hat,
trotz aller Angriffe, die man gegen ihn erhebt, nachzulesen, was dieser in
seinem Buche „Die politischen Testamente“ über den Staatsstreich sagt.
Es läßt sich gar nicht vermeiden, daß die Majorität, mit der eine Regie-
rung zu rechnen hat, auch ihren Einfluß auf die Regierung hat, und es
liegt deshalb eine Dissonanz darin, daß in Preußen die Regierung mit
einem aus einem ganz anderen Wahlsystem hervorgegangenen Parlament
zu arbeiten hat wie das Reich. (Hört! Hört! links.) Ich gehe noch weiter:
Ein solch verschiedenes Wahlrecht hat sogar die Wirkung, daß ich manchmal
den Eindruck habe — vielleicht ist mein Eindruck ein irrtümlicher —, daß
auch dieselbe Partei nicht ganz konsequent ist in ihrer Haltung in dem
einen und in dem andern Parlament. (Sehr wahr! und Heiterkeit.) Es
machen sich da sehr merkwürdige Unterschiede in der politischen Auffassung
geltend. Was nun das allgemeine Wahlrecht anbelangt, so bestehen meine
Bedenken gegen dasselbe nicht darin, daß ich glaube, es könnte bald im
Deutschen Reich eine Partei eine Mehrheit erwerben, die auf dem Stand-
punkt der äußersten Linken steht, ich halte die Grundlagen, auf denen die
Sozialdemokratie ihre Agitation und ihr ganzes politisches System auf-
baut, für politisch und staatsrechtlich viel zu schwach, als daß es möglich
wäre, für sie in diesem Hause eine Mehrheit zu erhalten; aber der Grund,
weswegen ich Bedenken gegen das allgemeine Wahlrecht habe, ist, daß es
seine Einwirkung auf die bürgerlichen Parteien hat. Aber man muß heut-
zutage, wo man von den Massen gewählt werden muß, mit großen Effekten
arbeiten, ähnlich wie in der Malerei, man muß impressionistisch arbeiten,
um auf die entfernten Massen zu wirken. Darum liegt, wie schon ein
Redner der konservativen Partei ausgesprochen hat, im allgemeinen Wahl-
recht für die bürgerlichen Parteien allerdings eine ziemlich große Gefahr,
und es gehört ein hohes Maß von Selbständigkeit des Charakters dazu,
sich nicht den Wünschen der Massen zu fügen, sondern die Massen zu leiten.
Es ist gesagt worden, das Dreiklassenwahlsystem trage nicht der Intelligenz