Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Stalien. (Mai 11.—17.) 339 
tischen Anschauung der Arbeiterklasse zu machen. Er geht sodann auf die 
gestrigen und heutigen Vorfälle in Bologna ein, wobei er unter lebhaftem 
Beifall der Mehrheit der armeefreundlichen Kundgebungen gedachte, die 
bei der Verhaftung exzedierender Ausständiger durch Angehörige der be- 
waffneten Macht von der Bevölkerung spontan veranstaltet wurden. Der 
Ministerpräsident erklärt unter erneutem Beifall, daß Gewalttätigkeiten 
nicht geduldet werden könnten, gleichviel von welcher Seite sie kämen. Es 
sei beklagenswert, daß die Arbeitermassen zu Unruhen aufgereizt würden. 
Die Aufwiegler trügen die volle Verantwortung für die Folgen ihres 
Treibens. Die einzig mögliche Abhilfe sehe er in der Erziehung der Volks- 
massen zum Ordnungs- und Pflichtgefühl. Die Regierung werde ihre 
Pflicht jedenfalls erfüllen und nötigenfalls auch mit Strenge die öffent- 
liche Ordnung aufrecht erhalten. Sie werde die Schuldigen ohne Zögern 
verhaften lassen und zähle bei diesem Vorgehen auf die moralische Unter- 
stützung der Kammer und des Landes. (Beifall.) — Abg. Bissolati (Soz.) 
tadelt das Vorgehen der Polizeibeamten in Turin. Diese Beamten und 
nicht die Arbeiter hätten verhaftet werden müssen. Die sozialistische Gruppe 
der Kammer habe vom Generalausstand abgeraten; nun, wo derselbe gegen 
ihren Rat doch ausgebrochen sei, habe sie zur Verhinderung von Aus- 
schreitungen einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Heranziehung von 
Truppen bei den Kämpfen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern unter- 
sagen und so die Metzeleien unter den Arbeitern verhindern solle. Sie 
verlange die sofortige Beratung dieses Gesetzentwurfes. Die sozialistische 
Gruppe werde jedes gesetzliche Mittel anwenden, um ihr Ziel zu erreichen. 
Wenn sie eine Niederlage erleide, werde sie darüber Beschluß fassen, ob es 
angezeigt sei, daß sie weiter in der Kammer bleibe. 
Die Kammer lehnt den Antrag der Sozialisten ab. 
11./12. Mai. (Kammer.) Mandatsniederlegung von So- 
zialisten. 
Der Präsident verliest ein Schreiben von sozialistischen Abgeord- 
neten, die darin die Niederlegung ihrer Mandate ankündigen: 1. wegen 
der Turiner Vorfälle, 2. wegen der gestrigen Abstimmung, in der die 
Kammer ihren Antrag auf Nichtverwendung von Militär bei Streikunruhen 
behufs Verhinderung von „Arbeitermassacres“ abgelehnt habe, und 3. wegen 
Abweisung des Antrages betreffend die Arbeiterinspektion. Ministerpräsident 
Sonnino fordert die Kammer auf, die Mandatsniederlegung abzulehnen. 
Das Vorgehen der sozialistischen Deputierten, das dazu beitragen könne, 
die Bewegung zu unterstützen, sei ein schwerer ökonomischer und moralischer 
Schaden. — Die Kammer lehnt die Mandatsniederlegung ab. — Da die 
Abgeordneten auf ihrem Austritt bestehen, genehmigt die Kammer die 
Niederlegung (12. Mai). 
17. Mai. (Kammer.) Südbahnfrage. Niederlage des Ka- 
binetts. Demission. 
Ministerpräsident Sonnino fordert, daß die Kammer am 28. mit 
der Beratung der Südbahn beginne. Abg. Majorana empfiehlt, für die 
Beendigung der Arbeiten der mit der Prüfung des Südbahnentwurfs be- 
austragten Kommission keinen Termin festzusetzen, damit deren Arbeiten 
ungestört vor sich gehen könnten. — Die Regierung beharrt auf ihrem 
Antrag, um schleunigst Klarheit und Ordnung schaffen zu können. Trotz- 
dem wird mit 179 gegen 152 Stimmen bei 40 Stimmenthaltungen be- 
schlossen, keinen Termin für die Vorlegung des Kommissionsberichts fest- 
zusetzen. — Infolgedessen tritt das Kabinett Sonnino zurück. 
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