Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 7.) 27
Rechnung. Gestatten Sie mir die Frage: Trägt denn das allgemeine
Wahlrecht der Intelligenz Rechnung, mehr Rechnung als das preußische
Wahlrecht mit allen seinen Fehlern und Schwächen? Wollen Sie wirklich
theoretisch verteidigen, daß ein hochgebildeter Mann der Wissenschaft nicht
mehr Intelligenz besitzt für das, was zum Staate notwendig ist, wie ein
Mann, der Tag für Tag dieselbe mechanische Arbeit an der Maschine ver-
richtet! Zum Beispiel wird der Abg. Bebel ein unendlich viel höheres Maß
von Intelligenz für sich in Anspruch nehmen wie irgend ein Handarbeiter.
Nun hat das allgemeine Wahlrecht, darüber dürfen wir uns nicht täuschen
— in der Politik ist Offenheit das beste — ungeheuer viel offene und sehr
viel geheime Gegner. Ich meine allerdings, daß das allgemeine Wahlrecht
Erscheinungen zutage gebracht hat, die Fürst Bismarck von ihm nicht er-
wartet hat. Das allgemeine Wahlrecht, wie wir es haben, ist das radi-
kalste Wahlrecht, das in der Welt existiert. Ich habe mir einmal die
Arbeit gemacht, die Wahlrechte zusammenstellen zu lassen und zu prüfen.
Unser Wahlrecht ist in der Tat das radikalste Wahlrecht, und es kann mit
dem Wahlrecht, das die süddeutschen Staaten eingeführt haben, nicht ver-
glichen werden. Das Reichswahlrecht ist an gar keinen Besitz geknüpft, es
ist nur der Aufenthalt notwendig und die Eintragung in die Wählerlisten.
Deshalb sind Fälle möglich gewesen, daß ein und dieselbe Person an ver-
schiedenen Orten gewählt hat. Unter dem jetzigen System ist unter Um-
ständen eine Kontrolle der betreffenden Wählerlisten vollkommen unmöglich;
wenn nur einer im letzten Moment nachweist, daß er ein Deutscher ist, so
hat er das Recht, in die Wahllisten eingetragen zu werden und zu wählen.
Das bayerische Wahlrecht dagegen verlangt eine ganz bestimmte Aufenthalts-
frist, und das ist gegenüber dem Zustande, wie er auf Grund des Reichs-
wahlrechtes möglich ist, eine wesentliche Kautele gegen Mißstände, wie sie
sich unzweifelhaft bei der letzten Wahl gezeigt haben. Ich komme nun zur
staatsrechtlichen Seite der Frage! Wie ist die deutsche Reichsverfassung
entstanden? Sie beruht zunächst auf einem Bunde, den die deutschen
Fürsten miteinander geschlossen haben, der aber demnächst durch die Gesetz-
gebung der Einzelstaaten sanktioniert worden ist. In der Einleitung der
Verfassung heißt es ausdrücklich: zum Schutz des Bundesgebiets und des
innerhalb desselben gültigen Rechts. Daraus folgt nicht: Die Bundes-
staaten sind geschaffen vom Reich, sondern die föderalistischen Staaten haben
das Reich geschaffen unter der Bedingung des Schutzes des gültigen Rechts.
Eine Ausnahme ist nur in Artikel 4 geschaffen, wo die Kompetenzen des
Reichs gegenüber dem Landesrecht ausdrücklich festgelegt sind. Während
nun das Deutsche Reich ein Produkt der Föderation der Bundesstaaten ist
und den Bundesstaaten in der Reichsverfassung ausdrücklich der Schutz des
geltenden Rechtes gesichert ist, wollen Sie jetzt den Spieß umdrehen. Das
Reich soll in die inneren Verhältnisse der Bundesstaaten eingreifen. Das
würde dem föderalistischen Prinzip, auf dem das ganze Deutsche Reich auf-
gebaut ist, schnurstracks entgegenlaufen. (Zustimmung im Zentrum.) Der
Abg. Bernstein hat uns eine Auseinandersetzung über das Recht der Straßen-
demonstration gehalten. Nun, in der sozialdemokratischen Presse habe ich
immer gelesen: „Wir brauchen keine äußeren Machtmittel, unsere Partei
wird siegen mit der Macht des Gedankens.“ Straßendemonstrationen
scheinen mir aber nicht ein Mittel der Macht des Gedankens zu sein, son-
dern lediglich der physischen Macht. (Zustimmung.) Und wenn der Abg.
Bernstein gesagt hat, in England ginge man so weit, daß man die Straßen-
demonstrationen duldete, die Polizei sperre nur die Straßen für die De-
monstranten ab, dann irrt er sich. Als die Arbeitswilligen neuerdings eine
Straßendemonstration arrangieren wollten, wurde sie von der englischen