Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

30 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 9.) 
vorlage eine Aenderung der Stempelsätze für Aktien, Kuxe, Renten und 
Schuldverschreibungen, eine anderweite Besteuerung der Frachturkunden 
und Quittungen und eine Besteuerung von Ansichtspostkarten, die im In- 
land zur Beförderung aufgegeben werden. Die Steuer für den Binnen- 
schiffahrtsverkehr (Nr. 3) und den Landverkehr (Nr. 4) soll beseitigt wer- 
den, mit der Einschränkung, daß auf ganze Wagenladungen bis zu einem 
Frachtbetrage von nicht mehr als 25 M 20 Pf über 25  M 50 Pf erhoben 
werden sollen. 
Staatssekretär Frhr. v. Stengel: Um der Forderung, den Massen- 
verbrauch nicht zu belasten, zu genügen, haben die Regierungen neben der 
Erbschaftssteuer die Verkehrssteuern unter die vorgeschlagenen Steuern auf- 
genommen. Von einer Verkehrsfeindlichkeit könne bei den Steuervorlagen, 
so wie die Stenervorschläge gefaßt seien, keine Rede sein. Er verweise 
auch, was den Frachturkundenstempel insbesondere anlange, auf die in 
anderen Staaten aus diesem Stempel erzielten Einnahmen und ferner auf 
die außerordentliche Belastung, der der Immolilienbesitz unterliege. Die 
Ausdehnung des Schifffrachtstempels auf den Landfracht- und Binnen- 
schiffsverkehr sei ein Versuch, auch den Umsatz des beweglichen Vermögens 
in etwas heranzuziehen. Mit Ablehnung auch der Stempelsteuern werde 
es immer schwieriger, Deckung für den erforderlichen Bedarf zu finden. 
Ob der Handel durch die vorgeschlagenen Steuern besonders werde belastet 
werden, sei ihm bei der Möglichkeit der Abwälzung der Abgabe zweifel- 
haft. Sollten aber dem Handel auch wirklich einige Opfer auferlegt werden, 
so dürfe man nicht vergessen, wie viel er der Machtstellung des Reiches 
und der Sicherung des Friedens verdanke, und daß gerade auch diesem 
Zwecke zum großen Teil die Ausgaben dienen, zu deren Deckung die Reichs- 
finanzreform die Mittel zu schaffen sucht. Es sei daher nicht recht zu ver- 
stehen, wenn gerade aus den in Rede stehenden Kreisen der Regierung 
Schwierigkeiten bereitet werden sollten. Er warne dringend vor einer Ab- 
lehnung der Novelle, da die Regierung sonst auf die Branntweinbesteuerung 
zurückgreifen oder den Einzelstaaten ein Teil der direkten Steuern entzogen. 
werden müsse. Abg. Müller-Fulda (Z.) führt aus, nicht zur Erhaltung 
des Friedens allein, sondern hauptsächlich zur Durchführung der Weltpolitik 
sei die kolossale Schuldenlast der letzten Jahre herbeigeführt worden. Dabei 
sei unser friedliches Verhältnis zu den Nachbarstaaten sicherlich nicht ver- 
stärkt worden. Gewiß trügen Handel und Industrie gern ein Opfer im 
Interesse des Reiches, aber die Vorlage belaste denn doch zu stark Handel 
und Gewerbe, und besonders die mittleren und kleineren Betriebe. Für 
Preußen würde ihn die Erhöhung der Einkommensteuer durchaus nicht 
schrecken. Der Reichstag habe seiner Zeit gegen die hohe Rückvergütung  
der Maischraumsteuer sich energisch ausgesprochen, ebenso sollte zu einer 
Reform der Kontingentierung geschritten werden. Eine entsprechende Vor- 
lage hätte die Regierung schon längst vorlegen sollen. Die Spannung 
zwischen Kontingent und Nichtkontingent sollte auf 15 Mark herabgesetzt 
werden. Der Wagenladungsstempel, den er vorgeschlagen, werde zehn Mil- 
lionen bringen. Redner weist auf die Absicht hin, Abgaben auf den 
Wasserstraßen zu erheben. Frhr. v. Stengel: Betreffs der Maischraum- 
steuer ist eine Vorlage geplant, um der fortschreitenden Abbröckelung ent- 
gegenzutreten. Zehn Millionen werde der Antrag Müller-Fulda nicht ab- 
werfen. Die 45 Millionen Liebesgabe unter den Tisch zu streichen, seie 
eine Kur à la Dr. Eisenbarth. Singer (Soz.): Seine Partei lehne jede 
Steuer ab. Bei der Erbschaftssteuer wolle seine Partei schon Mittel für 
das Reich schaffen. Kämpff (freis. Vp.): Die Vorlage greife tief in die 
Verhältnisse des Gewerbes und der Industrie ein, ebenso wie die Reform
	        
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