Rußland. (Mai 12. 17.) 377
12. Mai. Der Gesandte in Kopenhagen, Iswolski, wird zum
Minister des Auswärtigen ernannt. Der bisherige Minister des
Auswärtigen, Graf Lambsdorff, wird Mitglied des Reichsrats.
17. Mai. Die Duma genehmigt nach mehrtägiger Debatte
mit großer Mehrheit folgende Adresse an den Zaren:
Eure Majestät beliebten in der an die Volksvertreter gerichteten
Rede den Entschluß auszudrücken, die Institution unerschütterlich zu be-
wahren, durch welche das Volk berufen ist, die gesetzgeberische Gewalt im
Verein mit dem Monarchen zu verwirklichen. Die Reichsduma erblickt in
dem feierlichen Versprechen an das Volk ein sicheres Unterpfand der Festi-
gung und der Weiterentwicklung der Gesetzgebung, welche streng konstitu-
tionellen Grundsätzen entspricht. Die Reichsduma ihrerseits wird alles
daran setzen, die Grundlagen der Volksvertretung zu vervollkommnen und
Eurer Majestät ein die Volksvertretung betreffendes Gesetz zur Bestätigung
zu unterbreiten, das dem einstimmig geäußerten Volkswillen gemäß auf
dem allgemeinen Wahlrecht basiert. Der Aufruf Eurer Majestät zur ge-
meinsamen Arbeit zum Nutzen der Heimat findet lebhaften Widerhall in
den Abgeordneten. Die Duma, deren Vertreter allen Klassen und Nationali-
täten Rußlands angehören, ist geeint in dem heißen Bestreben, Rußland
zu erneuern und eine Staatsordnung zu schaffen auf der Grundlage des
friedlichen Zusammenlebens aller und auf den festen Pfeilern der bürger-
lichen Freiheit. Die Duma hält es für ihre Pflicht, auf die Bedingungen
hinzuweisen, unter welchen das Land lebt und welche die wahrhaft frucht-
bringende Arbeit zur Wiederverjüngung der besseren Kräfte des Landes
unmöglich machen. Das Land sah ein, daß der wundeste Punkt unseres
Staatslebens die Eigenmächtigkeit unserer Beamten ist, welche den Kaiser
vom Volke trennen, und einstimmig erklärte das Land laut, daß eine Er-
neuerung des Lebens nur möglich sei auf den Grundlagen der Freiheit
unter selbsttätiger Beteiligung des Volkes an der legislativen Gewalt und
an der Kontrolle durch die Exekutivgewalt. Eurer Majestät beliebte es,
in dem Manifeste vom 30. Oktober von der Höhe des Thrones die feste
Entschlossenheit kundzugeben, eben diese Grundlagen zur Basis für die
fernere Gestaltung der Geschicke Rußlands zu machen, und das ganze
russische Volk begrüßte mit begeistertem Ruf die Botschaft. Doch schon die
ersten Tage der Freiheit waren durch schwere Prüfungen verdüstert, wel-
chen das Land von denjenigen unterworfen wurde, die noch immer dem
Volke den Weg zum Kaiser verlegen und alle Grundlagen des Manifestes
vom 30. Oktober mit Füßen treten und dabei das Land mit der Schmach
von Hinrichtungen ohne Richterspruch und mit Ausschreitungen, Füsilie-
rungen und Einkerkerungen bedecken. Die Spuren dieser Handlungsweise
sind in den letzten Monaten so tief in die Volksseele gedrungen, daß keine
Beruhigung möglich ist, solange im Volke nicht klar wird, daß den Be-
hörden von nun an jede Gewalttätigkeit untersagt ist, welche den Namen
Majestät als Deckmantel benutzen, solange die Minister unverantwortlich
vor der Volksvertretung sind und solange die ganze Verwaltung nicht er-
neuert wird. Nur wenn die Minister vor dem Volke verantwortlich ge-
macht werden, kann in den Gemütern der Gedanke der vollen Unverant-
wortlichkeit des Monarchen Wurzel fassen. Nur das Vertrauen zur Mehr-
heit der Duma und dem Gewissen des Ministeriums kann das Vertrauen
zur Regierung festigen. Nur bei solchem Vertrauen ist eine ruhige und
normale Arbeit der Reichsduma möglich. Vor allem ist es in Rußland
nötig, die Ausnahmegesetze, betreffend den verstärkten Schutz und den Kriegs-