Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Mebersicht über die Volilische Entwisselung des Jahres 1906. 145 
meintliche übelstände im Kolonialwesen, ohne stets peinlich zu 
prüfen, ob seine Beschwerden begründet waren oder nicht. Die 
Wahl der Kolonialverwaltung und Kolonialpolitik als Operations= 
feld der Kritik erwies sich als ein taktisch außerordentlich geschickter 
Zug. Denn einerseits ist die Kolonialpolitik bei vielen bäuerlichen 
Zentrumswählern unpopulär, weil sie ihre Notwendigkeit nicht ver- 
steheen, andererseits kann sie als der jüngste Zweig der deutschen 
Politik noch keine äußeren Erfolge aufweisen und hierdurch die 
Gegner entwaffnen, und endlich sind in der Verwaltung wie in 
jeder jungen Organisation manche Versuche fehlgeschlagen, manche 
Fehler und Mißgriffe persönlicher und sachlicher Natur vorgekommen. 
Sobald der Abg. Erzberger erst die Aufmerksamkeit durch seine Kritik 
auf sich gezogen hatte, floß ihm bald ein großes Material zu: 
Nachrichten von katholischen Missionaren, unzufriedenen Beamten 
und Reisenden über Ungerechtigkeiten der Kolonialverwaltung gegen 
Weiße, Beeinträchtigung der Wirksamkeit der Missionare, Miß- 
handlung der Eingeborenen, unsittliches Leben der Europäer, Ver- 
schwendung innerhalb der Verwaltung u. dgl.: alles Dinge, die 
ihn zu fortgesetzten Angriffen auf einzelne Beamte und die Gesamt- 
verwaltung befähigten. Er begann somit als Ankläger in den 
kolonialen Dingen dieselbe Rolle zu spielen wie früher der Abg. 
Eugen Richter in den Angelegenheiten der Armee und der inneren 
Verwaltung. Er war diesem allerdings an Geist, Kenntnis und 
rednerischer Begabung keineswegs ebenbürtig, aber er verstand im 
Unterschied von Richter den Schein der prinzipiellen, unfruchtbaren 
Kritik zu vermeiden, er stellte sich vielmehr stets hin als den im 
Grunde kolonialfreundlichen Politiker, dem weniger die Kritik als 
die Besserung am Herzen lag. Eine ähnliche Tätigkeit verfolgte 
neben ihm der Abg. Roeren, der aber in der Offentlichkeit weniger 
hervortrat. Er benutzte seine Stellung als Führer der größten 
und für alle entscheidenden Bewilligungen unentbehrlichen Partei 
dazu, um durch persönliche Verhandlungen mit dem Chef der 
Kolonialverwaltung, den er mit einer Zentrumsopposition bedrohte 
und einschüchterte, allerlei bestimmte Wünsche in Einzelfragen durch- 
zusetzen. Er übte somit einen verborgenen aber starken Einfluß 
aus. Die Kritik, die in Kommissionen und im Plenum des Reichs-
	        
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