Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

84 Das Dentsche Reich und seine einjeluen Glieder. (März 30./April 3.) 
keiner Weise zu entschuldigende Mißhandlungen vorkommen. Ich bin nicht 
in der Lage, auf jeden der Fälle, die der Abg. Dr. Müller.Meiningen hier 
vorgetragen hat, einzugehen. Wenn er aber meint, daß diese Mißhand- 
lungen nur vorkämen, weil das Beschwerderecht nicht funktionierte, so bin 
ich anderer Ansicht. Ich glaube, daß die Neigung zum Mißhandeln nicht 
in der Kaserne erzeugt wird, sondern daß sie vielfach in die Kasernen 
hineingetragen wird. Allerdings findet eine gewisse sadistische Richtung 
durch die Einrichtungen des militärischen Lebens einen gewissen Nährboden. 
Ich muß zugeben, daß die Kaserne vielfach auch dann noch eine gute Brut- 
stätte bildet, wenn die Aufsicht fehlt, was ja auch hin und wieder leider 
vorkommt. Sie wissen alle, daß wir in die Armee rohe und ungesittete 
Elemente hineinbekommen, die vielfach vorbestraft sind und die im Umgang 
mit den anderen eine gewisse dämonische Kraft zu haben scheinen, die die- 
jenigen Leute, welche das Unglück haben, mit ihnen zusammen auf einer 
Stube zu sein, vollständig unterdrücken und ihnen die Kraft nehmen, sich 
zu beschweren. Solche Fälle sind häufig vorgekommen, und ich glaube, es 
ist niemals möglich, derartige Fälle aus der Armee vollständig herauszu- 
bringen. Sie finden sie beinahe in jedem Internat, und wie viele Väter 
haben nicht schon Söhne aus solchen Internaten zurückbekommen, die sich 
derartige Mißhandlungen haben zuschulden kommen lassen! Es ist nicht 
immer allein die Schuld der Kaserne, nicht die Schuld des Systems oder 
der Armee, daß etwas derartiges passiert. Es wird immer passieren, wo 
junge Leute zusammenleben, namentlich da, wo eine gewisse Disziplin, 
eine Autorität besteht, die bei den Soldaten bestehen muß, und die natür- 
lich nun dahin drängt, daß der Untergebene sich scheut, sofort gegen den 
Vorgesetzten mit einer Beschwerde vorzugehen. Ich habe 1903 die Statistik 
über die Bestrafung militärischer Mißhandlungen dem Hause mitctgeteilt; 
1903 wurden bestraft: 665 Vorgesetzte, darunter 57 Offiziere, 555 Unter- 
offiziere, 53 Gefreite. 1905 wurden bestraft: 390 Vorgesetzte, also weniger 
275, und zwar 26 Offiziere, d. h. weniger 31; 333 Unteroffiziere, weniger 
222; 31 Gefreite, weniger 22. Es ergibt sich hieraus, daß die unausgesetzte 
Beaufsichtigung gegen Uebergriffe der Vorgesetzten von Erfolg gewesen ist, 
wenn wir auch immer noch nicht von einem solchen Erfolge, wie wir ihn 
alle wünschen, sprechen können. Die Zahl der Mißhandelten, Geschlagenen, 
Gestoßenen betrug 1903 1294; von den zur Bestrafung gelangten Fällen 
waren zur Kenntnis gelangt durch Beschwerde oder Meldung von Vor- 
gesetzten 1903: 477, 1905: 323, auf andere Art 1903: 188, 1905: 65. 
Das ist doch ein zahlenmäßiger Beweis, daß das Beschwerderecht in der 
Tat funktioniert hat. Es kommen auf drei bis vier Kompagnien ein 
mißhandelter Mann, oder auf eine Kompagnie kamen 1903: 60,39, 
1905: 0,30 mißhandelte Personen. Ich habe 1903 gesagt: Wenn auch 
nur hundert Leute in der Armee mißhandelt werden, so sind es zu 
viel; ich habe gesagt: Wir werden mit diesen brutalen Mißhandlungen 
zu Rande kommen, und ich glaube, in einer gewissen Richtung hat mich 
die Armee hierbei nicht im Stich gelassen; es ist tatsächlich ein Fortschritt 
zu bemerken. 
Während sozialdemokratische Abgeordnete die Militärverwaltung für 
die Mißhandlungen verantwortlich machen, führt sie Abg. v. Kar- 
dorff (RP.) auf die durch die Sozialdemokratie bewirkte zunehmende 
Verrohung der Jugend zurück. — Der Antrag Müller wird am 31. gegen 
die Stimmen der Konservativen und der Reichspartei angenommen. An 
den folgenden Tagen wird unter anderem über die Ursachen der Nieder- 
8 von 1806 und die Lage der Arbeiter in den Militärwerkstätten ver- 
andelt.
	        
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