Das Teuische Reich und seine einzelnen Glieder. (April 5.) 89
durch mancherlei Opfer erworbenen historischen oder moralischen Anrechte
wie diese beiden europäischen Kulturländer. Aber wir hatten wirtschaftliche
Interessen in einem selbständigen, unabhängigen, bisher noch wenig er-
schlossenen, zukunftsreichen Lande. Wir waren Teilhaber an einer inter-
nationalen Konvention, die das Prinzip der Meistbegünstigung enthielt;
wir besaßen in einem Handelsvertrag das Recht der meistbegünstigten
Nation. Darüber nicht ohne unsere Zustimmung verfügen zu lassen, war
eine Frage des Ansehens der deutschen Politik, der Würde des Deutschen
Reiches, in welcher wir nicht nachgeben durften. (Sehr richtigl) Daraus,
meine Herren, folgt, was wir in Marokko erreichen wollten, was nicht.
Wir wollten nicht in Marokko selbst festen Fuß fassen, denn darin hätte
eher eine Schwächung als eine Stärkung unserer Stellung gelegen. Wir
wollten auch älteren, politisch und historisch begründeten Ansprüchen
Spaniens oder Frankreichs keinen schikanösen oder überhaupt einen Wider-
stand entgegensetzen, solange die deutschen Rechte und Interessen geschont
und geachtet wurden. Wir wollten uns auch nicht an England reiben,
weil dies mit seinem Vertrage vom 8. April 1904 eine Anlehnung an
Frankreich vollzogen hatte, denn in diesem Vertrage verfügte England, was
Marokko betrifft, nur über seine eigenen Interessen, und was Aegypten be-
trifft, so hatte es in den uns angehenden Fragen nachträglich unsere Zu-
stimmung herbeigeführt. Was wir wollten, war: zu bekunden, daß das
Deutsche Reich sich nicht als quantité négligenble behandeln läßt (lebhafte
Zustimmung), daß die Basis eines internationalen Vertrages nicht ohne
Zustimmung der Signatarmächte verrückt werden darf, daß in einem so
wichtigen, selbständigen, an zwei Welthandelsstraßen gelegenen Wirtschafts-
gebiet die Tür für die Freiheit des fremden Wettbewerbs offen gehalten
werden müsse. Das geeignetste Mittel, dieses Ziel auf gütlichem Wege zu
erreichen, war die Einberufung einer neuen Konferenz. Ich habe in den
Zeitungen hier und da gelesen, daß wir mit einem französisch-deutschen
Separatabkommen mehr erreicht haben würden. Ich weiß nicht, ob ein
solches überhaupt möglich gewesen wäre und ob nicht bei einem solchen
Versuch im Gegenteil die Gegensätze sich noch mehr verschärft haben würden.
Jedenfalls würden wir damit von vornherein unsere feste, auf einem inter-
nationalen Vertrage beruhende Rechtstellung geschwächt haben. Unser Ver-
trauen in die Sicherheit, die eine feste Rechtsgrundlage gewährt, war so
groß, daß wir auf die Konferenz drängten, obwohl jedermann wußte, daß
drei Großmächte durch Sonderabmachungen an Frankreich gebunden seien
und eine vierte ihr Alliierter war, daß wir also unsere Forderungen auf
der Konferenz gegen eine Mehrheit der Großmächte durchzusetzen hatten.
Das Vertrauen, von dem ich eben sprach, hat uns nicht getäuscht. Gewiß,
meine Herren, hat die Konferenz länger gedauert, als mancher erwartete:
die Sache war eben nicht leicht, und es gibt auch in der Diplomatie wie
im bürgerlichen Leben manche weit weniger wichtige Angelegenheiten, über
die noch viel länger verhandelt und gestritten wird. (Heiterkeit.) Unsern
Unterhändlern bin ich die Anerkennung schuldig, daß sie die deutschen For-
derungen mit ebensoviel Festigkeit und Zähigkeit wie Umsicht vertreten
haben. (Lebhafte Zustimmung.) Die Einzelheiten der Konferenzbeschlüsse
sind durch die Presse veröffentlicht worden und Ihnen bekannt. Ich will
sie in diesem Augenblick nicht mehr erörtern und auch hinsichtlich des Ge-
samtergebnisses nur vorläufig das Nachstehende betonen: Es wäre ein
Mangel an Augenmaß gewesen, wenn wir wegen untergeordneter Forde-
rungen die Konferenz hätten scheitern lassen, etwa an der Frage, wie groß
die Zahl der Zensoren der Staatsbank genommen werden soll, oder an der
Frage der schweizerischen oder holländischen Zollinspektion Fragen — die