Uebersicht
über die politische Entwichelung des Jahres 1907.
Das abgelaufene Jahr weist nicht wie die vorhergehenden
ein Hauptereignis auf, das die übrigen beherrscht und eine neue
Mächtegruppierung hervorgerufen hat. es wird vielmehr charakte-
rifiert durch eine Reihe Vorgänge, die noch im Fluß begriffen sind
und neue Situationen zwar anscheinend vorbereiten aber in Ver-
lauf und Wirkung noch nicht völlig erkennbar sind. Hierzu gehört
vor allem die marokkanische Angelegenheit, die für die Gruppie-
rung der großen Mächte in den letzten drei Jahren eine so be-
deutende Rolle gespielt hat. Mit dem Ergebnis der Algeciras-
konferenz, die die Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich
zu schlichten gesucht hatte, waren weite Kreise der französischen
Nation unzufrieden. Sie sahen darin ein Zurückweichen Frank-
reichs vor Deutschland und fürchteten, daß Deutschland in Marokko
bald allerlei wirtschaftliche Vorteile infolge der dort gewonnenen
Sympathie davontragen würde. Solche Stimmen forderten daher
Unausgesetzt die Regierung auf, jede Gelegenheit, etwa Schädigung
französischer Untertanen in Marokko durch Insurgenten, zum Ein-
schreiten zu benützen und so trotz der Algecirasakte einen Vorwand
zur „Tunifikation“ Marokkos zu finden. Freilich fehlten auch
Außerungen entgegengesetzter Natur nicht, die unter Hinweis auf
die ungeheuren Kosten einer solchen Politik und die daraus hervor-
gehende Gefahr eines Bruches mit Deutschland jede gewaltsame
Unterwerfung ablehnten; namentlich war es der sozialistische Ab-
geordnete Jaures, der als Vertreter dieser Tendenzen auftrat, aber
es ist kein Zweifel, daß auch unter den bürgerlichen Politikern die