Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1907. (48)

390 Hebersicht über die pvolitische Entwichelung des Jahres 1907. 
und links sich auf eine Mittellinie einigen müßten. Diese ge- 
harnischte Erklärung bewirkte, daß sämtliche Parteien der Mehrheit 
sich feierlich für Fortsetzung der Blockpolitik aussprachen, da keine 
die Wiederkehr der Zentrumsherrschaft wünschte. Praktische Folgen 
hat diese abermalige Einigung bis zum Jahresschluß noch nicht 
haben können. 
Von den Entwürfen, die dem Reichstage vorgelegt worden 
sind, war der wichtigste die Flottenvorlage (S. 157). Ihre Er- 
ledigung wird keine Schwierigkeiten machen; erst die Deckungsfrage 
wird zu Kämpfen Anlaß geben. Die populäre Agitation gegen 
die angeblich ungenügenden Forderungen der Regierung ist im 
Reichstage nicht gut geheißen worden. — Neben der Marinevor- 
lage ist das Reichsvereinsgesetz von Wichtigkeit. Es bringt ebenfalls 
Zwiespalt in den Block, weil die Linke das Verbot der fremden 
Sprachen in öffentlichen Versammlungen nicht zulassen will (S. 168). 
In Preußen war bis zum Jahresschluß der Block auf 
eine stärkere Probe noch nicht gestellt worden, da die Wahl= und 
Schulfragen noch nicht auf der Tagesordnung erschienen. Die 
Hauptvorlage war hier die Enteignungsvorlage zur Förderung 
der Ansiedlung in den gemischt-sprachigen Provinzen zugunsten 
des Deutschtums (S. 1638). Der Entwurf fand Widerspruch auf 
der Rechten, weil ihr die Enteignung ein unzulässiger Eingriff in 
das Privateigentum zu sein scheint, auf der Linken, weil sie hierin 
eine Verfassungsänderung, ein Ausnahmegesetz gegen die Polen 
sieht, das mit liberalen Anschauungen nicht im Einklange steht. 
Eine Entscheidung war am Jahresschlusse noch nicht gefallen. 
Von sonstigen Fragen allgemeiner Natur sind noch zu er- 
wähnen die Verhandlungen über die Eisenbahnbetriebsmittelgemein- 
schaft, die Schiffahrtsabgaben und die Erhöhung der Beamten- 
besoldungen, die sämtlich noch unerledigt sind. Sodann hat viele 
Diskussionen hervorgerufen der Rücktritt des Staatssekretärs Grafen 
Posadowsky, der als treibendes Element in der Sozialpolitik 
galt. Sein Rücktritt wird mit seiner Unzufriedenheit mit der 
neuen Parteikonstellation motiviert; es heißt, er habe den Bruch 
mit dem Zentrum mißbilligt. Eine Veränderung in der sozial- 
politischen Haltung der Regierung ist seitdem noch nicht hervor-
	        
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