Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

116 Pes Pentsqe Reiq unb seine einzelnen Glieder. (März 29.) 
und es entspreche das dem Bündnis mit Oesterreich-Ungarn, dem Europa 
um größten Teil einen dreißigjährigen Frieden verdanke. Zu der Zeit 
schries ich nach London, daß wir einerseits für die Reformbewegung Sym- 
pathie hätten, und daß wir anderseits unseren treuen Bundesgenossen in 
seiner schwierigen Lage nicht im Stich lassen würden. Am 13. Oktober 
schrieb ich weiter nach London, daß Oesterreich--Ungarn die bosnische Frage 
auf einer Konferenz nicht ohne weiteres zulassen könne, und daß wir 
unserem Verbündeten in dieser Auffassung zur Seite ständen. Am selben 
Tage ließ ich eine Instruktion nach Wien gehen, aus der ich abschließend 
noch einen kurzen Passus mitteilen möchte. Ich schrieb an unseren Bot- 
schafter in Wien: ich hatte gestern Gelegenheit zu einer längeren Aussprache 
mit Seiner Majestät dem Kaiser und König und bin in der Lage, 
zu sagen, daß Seine Majestät vollkommen den Standpunkt billigt und 
teilt, den ich seither eingenommen habe, daß der feste Wille in Erfüllung 
unsrer Bundespflicht vorhanden ist, an der Seite unfres Verbündeten zu 
stehen und zu bleiben. Auch für den Fall, daß Schwierigkeiten und 
Komplikationen entstehen sollten, wird unser Verbündeter auf uns rechnen 
können. Seine Majestät, dessen verehrungsvolle Freundschaft für den 
Kaiser Franz Joseph bekannt ist, steht in unerschütterlicher Treue zu seinem 
erhabenen Verbündeten. Das also, meine Herren, war der Standpunkt, 
und das war meine Instruktion vom ersten Tage an. Daraus können 
Sie ermessen, was es auf sich hat, wenn man mich als unsicheren Kan- 
tonisten hat verdächtigen wollen. 
Wie ich mich gegen die grundlose Behauptung, als ob ich unsern 
österreichisch-ungarischen Verbündeten unlauter unterstützt hätte, wenden 
muß, so muß ich mich jetzt gegen den entgegengesetzten Vorwurf verteidigen, 
nämlich den, daß wir unsern Platz mit überflüssigem Eifer an der Seite 
von Oesterreich--Ungarn genommen hätten. Man hat darüber geklagt, daß 
wir uns dadurch unnötigerweise in Gefahren begeben hätten. Man hat 
uns vorgeworfen, daß wir uns für Interessen eingesetzt hätten, die nicht 
unsre eigenen Interessen wären. Diese Vorwürfe werden vorgetragen 
unter dem Anschein eines gesunden Egoismus, und sie werden vorgetragen 
unter Berufung auf die Autorität des Fürsten Bismarck. Es wird als 
Bismarksche Ansicht hingestellt, daß wir in der Balkankrisis jede Stellung- 
nahme hätten vermeiden sollen. Ich behaupte, daß eine solche Politik vom 
Fürsten Bismarck ohne Bedenken verworfen worden wäre. Nicht in Orient- 
fragen überhaupt Stellung zu nehmen, hat Fürst Bismarck geraten, sondern 
vorzeitig Stellung zu nehmen oder die Führung an sich zu nehmen. Ich 
beziehe mich auf ein Wort des Fürsten Bismarck, das zu der Zeit, als es 
gesorochen wurde, eine allgemein mahnende Betrachtung war und das 
heute eine schlagende Rechtfertigung enthält. In seiner unsterblichen Rede 
vom 6. Februar 1888 sagte Fürst Bismarck — ich habe mir die Stelle 
aufgeschrieben —: „Ein Staat, wie Oesterreich-Ungarn, wird dadurch, daß 
man ihn im Stiche läßt, entfremdet, und wird geneigt werden, dem die 
Hand zu bieten, der seinerseits der Gegner eines unzuverlässigen Freundes 
gewesen ist. Nicht in der Aussicht auf irgend einen handfesten territorialen 
oder wirtschaftlichen Gewinn liegt unser Interesse, unser eigenes und eigent- 
liches Interesse liegt in der Situation.“ (Sehr wahr!) Glauben Sie wirklich, 
daß wir irgend einen neuen Freund gewonnen, irgend einen Ersatz gefunden 
hätten, für ein durch 30 Jahre bewährtes Bündnis, wenn wir die Probe 
auf unfre Treue nicht bestanden hätten? (Sehr wahrl) Nicht aus Furcht 
etwa, den Anschluß an andre Mächte nicht zu finden. (Sehr gutl) Wir 
würden uns, meine Herren, sehr bald wohl diesmal ohne Oesterreich-Ungarn 
derselben Mächtegruppierung gegenüber gesehen haben, der Oesterreich-
	        
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