Das Veische Reich und seine eintelnen Glieder. (Juni 6. 8.) 195
6. Juni. Die Nachricht, daß der Deutsche Kaiser auf
Einladung des Zaren eine Reise nach den finnischen Schären
unternehmen wird, um dort eine Besprechung der beiden Monarchen
zu ermöglichen, wird in der ausländischen Presse als ein Hinweis
dafür ausgegeben, daß man auf deutscher Seite eine Aenderung
der in Europa herrschenden politischen Orientierungen suchen werde.
Dem entgegnet die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“:
„Für uns bedeutet das Zusammentreffen Kaiser Wilhelms mit
Kaiser Nikolaus zu freundschaftlicher Aussprache keine Veränderung in den
Grundlinien der europäischen Politik, es bedeutet aber, daß beide Monarchen
üre persönlichen Beziehungen wie ein gutes Einvernehmen zwischen ihren
eichen nach wie vor pflegen und fördern wollen."“
6. Juni. (Eisenach.) Der dritte Vertretertag des Antiultra-
montanen Reichsverbandes nimmt einstimmig folgende Resolution an:
„Der dritte Vertretertag des Antiultramontanen Reichsverbandes
erblickt in der Wiedereinsetzung des Zentrums in die parlamentarische
Machtstellung eine schwere Schädigung des nationalen Gedankens, die um
so verwerflicher ist, als sie einsetzt bei einer so eminent nationalen Frage
wie der Reichsfinanzreform. Mit allem Nachdruck muß die politisch wie
kulturell gleich wichtige Wahrheit hervorgehoben werden, daß das Zentrum
als Partei und als Verkörperung des nationalen Ultramontanismus,
unbeschadet der nationalen Gesinnung vieler seiner Anhänger, keine
nationalen Ziele verfolgt, so daß diese Partei nicht berufen sein kann, in
nationalen Fragen den Ausschlag zu geben. Der VBertretertag fordert
Regierung und Parteien auf, an der Gegnerschaft wider das Zentrum fest-
zuhalten. Diese Gegnerschaft ist im gewissen Sinne eine Frage des Seins
oder Nichtseins der politischen Größe und kulturellen Bedeutung des
Deutschen Reiches. Denn die Brüchigkeit, an der die äußere und innere
Entwickelung des Deutschen Reiches zweifellos krankt, ist zurückzuführen
auf die Macht des Zentrums, d. h. auf den in allen Gebieten des öffent-
lichen Lebens sich betätigenden offenen oder geheimen Widerstand des
Ultramontanismus gegen die freie Entfaltung der Kräfte unsers Volkes
und Staates. Das Wort Bismarcks: -Ich habe erkannt, daß mit den
Grundsätzen des Zentrums weder das Deutsche Reich noch der preußische
Staat bestehen können-, ist von bleibender Wahrheit. Die Erkenntnis
dieser Wahrheit muß durch Aufklärungsarbeit zum Gemeingut aller Volks-
klassen gemacht werden. Nicht der katholischen Religion gilt der Kampf,
sondern dem die Religion zu seinen weltlich-politischen antikulturellen
Zwecken mißbrauchenden Ultramontanismus, den ein so erleuchteter und
frommer Katholik wie der langjährige Führer der badischen Katholiken,
Reinhold Baumstark, als die Pestbeule am Leben der katholischen Kirche
bezeichnet hat. Der Ultramontanismus ist in gleicher Weise die Pestbeule
des modernen Staates und der modernen Kultur.“
8. Juni. Der Kaiser gibt seine Zustimmung, daß der
Generaloberst von der Goltz zunächst einen einmonatigen Ur-
laub nach der Türkei antritt, um sich dort darüber zu unterrichten,
ob und in welcher Weise er bei der Reorganisierung der türkischen
Armee behilflich sein kann.
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