212 Has Venische Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 16.)
Abneigung gegen das, was man Börse nennt, gegen die Kreise, die den
Geldvermittlungsverkehr an der Börse und im Zusammenhang mit ihr
vollziehen, zum Teil sogar bewußt, das leitende Motiv ist. Aber berechtigt
ist es darum nicht, man trifft damit nicht nur die Börse, nein, man trifft
vielmehr Gewerbe und Handel, das heißt diejenigen erwerbstätigen Kreise,
die, und zwar in Deutschland ganz besonders bei der verhältnismäßigen
Kapitalschwachheit, zur Betätigung der Unternehmungslust auf die Geld-
vermittlung durch die Börse angewiesen sind. Es wird niemals — das
hat ja schon der Reichskanzler angedeutet — eine Gesetzgebung eingeführt
werden dürfen, die die Landwirtschaft schädigt. Beim vorliegenden Stempel-
steuer- und Erbschaftssteuergesetz wird ja auf die Interessen der Landwirt-
schaft weitgehende Rücksicht genommen, aber auf der andern Seite müssen
die verbündeten Regierungen auch darauf Wert legen und darauf bestehen,
daß auch Handel und Gewerbe dabei zu ihrem Recht kommen und keinen
dauernden Schaden erleiden. So wenig es zu wünschen wäre, daß Deutsch-
land reiner Industriestaat, reiner Handelsstaat wird, so sehr sind wir auf
der andern Seite dringend genötigt, nicht die Quellen des Wohlstandes zu
verstopfen, die aus Handel und Industrie fließen. Handel und Industrie
beschäftigen Millionen von Menschen. Wir würden auch kulturelle Fragen
— ich denke besonders an die Sozialpolitik — schädigen. Nach Ansicht
der verbündeten Regierungen ist es eine bedenkliche Erscheinung, wenn die
für das Gedeihen Deutschlands notwendigen Teile, Handel und Gewerbe
und Landwirtschaft, gegeneinander gehen oder gar in einen dauernden
Kampf geraten. Aus allen diesen Gründen müssen die verbündeten Re-
gierungen es unter allen Umständen ablehnen, eine Steuer wie die Ko-
tierungssteuer mit der Finanzreform zu verbinden.
Dasselbe Bedenken grundsätzlicher Art hinsichtlich der Schädigung
von Handel und Industrie gilt gegen die Mühlenumsatzsteuer und in ge-
wisser Beschränkung auch gegen den Kohlenausfuhrzoll. Wenn sie zur
Verhandlung stehen, werde ich die Bedenken näher vortragen. Wie diese
Vorschläge aus wirtschaftlichen Gründen entstanden sind, müssen sie auch
danach beurteilt werden. Gewiß würde die Mühlenumsatzsteuer als Er-
drosselungssteuer für die Großen wirken, aber auch den mittleren Mühlen
die Produktion verteuern und damit zu einer Steigerung der Mehlpreise
beitragen, die besonders bedenklich wäre in der jetzigen Pen der ohnehin
schon hohen Getreidepreise. Das würde den ausländischen Mühlen zugute
kommen, den Import des Mehles befördern und die großen Mühlen nötigen,
ihre Betriebe ins Ausland zu verlegen. Und was den Kohlenausfuhr-
zoll betrifft, so sind die verbündeten Regierungen zu der Ueberzeugung
gekommen, daß der Zweck, den Kohlenbezug im Inlande zu verbilligen,
damit nicht erreicht würde. Was erreicht würde, ist folgendes: Die Kohlen-
gruben müssen zum Teil zur Beschäftigung ihrer Arbeiter, zum Teil zur
Ausnutzung ihrer Einrichtungen und Niedrighaltung ihrer Betriebskosten,
besonders wenn die Industrie im Inlande nicht stark im Schwunge ist,
exportieren. Der Preis im Auslande aber bestimmt sich nach dem Welt-
marktpreise, und bei dem Export würden die Kohlenbergwerke diesen Zoll
im wesentlichen auf sich nehmen müssen. Das würden sie aber auf den
Inlandpreis überwälzen müssen. Es würde nicht verbilligend, es würde
vertenernd auf den inländischen Kohlenbezug wirken, und das würde vor
allem die schwere Industrie treffen, die 40 Prozent aller Koblen abnimmt,
und jetzt schon in keiner günstigen Lage ist, die durch manches Wetter-
gewölk am wirtschaftlichen Himmel des Auslandes bedroht ist und der auch
durch die neue Reichsversicherungsordnung eine Reihe erheblicher Lasten
bevorsteht. Unter diesen Umständen lehnen die verbündeten Regierungen