Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Veutsche Reich und seine einfelnen Glieder. (Juni 17.) 217 
ehrlich hervorhob, daß die nationale Idee in liberalen Kreisen geboren 
ist, und stark betonte, den liberalen Geist aus der Gesetzgebung bannen, 
wäre ein historisches Unrecht, ein politischer Fehler. Es wäre ihm leicht 
geworden, die Beispiele aus der Geschichte beizubringen, die Belege für 
die Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit: nicht nur einzelner Minister, sondern 
auch der Konservativen in alter Zeit, wie sie die deutsche Einheit als 
revolutionären verbrecherischen Aberwitz verfolgten, den nationalen Ge- 
danken als „Kronenraub und Nationalitätenschwindel“ bezeichneten und 
noch im Spiegelsaal von Versailles sich mit dem deutschen Kaisertum nicht 
auszusöhnen vermochten. Ist das ein Schwanengesang? Alle Welt war 
gespannt, als Fürst Bülow darüber zu sprechen begann, ob er bleibt oder 
geht. Er bleibt, um die Finanzreform durchzusetzen. Er bleibt so lange, 
wie es der Kaiser will und seine Ueberzeugung es zuläßt. Er geht, wenn 
er die Ausicht gewinnt, daß ein anderer leichter zum Ziel gelangt, oder 
wenn die Verhältnisse eine Entwickelung nehmen, die er nicht mitmachen 
kann und will. Man wußte nicht recht, was man aus diesem Schluß 
schließen sollte. Heißt es nun wirklich: „Klar zum Gefecht!“, zieht Fürst 
Bülow in einen frischen, fröhlichen Kampf, ist er bereit, den Reichstag 
aufzulösen, wozu ihm Herr Bassermann beherzt riet? Oder will er sich 
nur noch als später Bahnbrecher des Liberalismus einen guten Abgang 
sichern? Vielleicht denkt Fürst Bülow selbst: das wird sich zeigen, wenn 
der Reichstag aufgehört hat, zu reden, und die Abstimmungen erfolgt sind. 
Bis dahin bleibt mancherlei ungewiß für das Volk wie für den leitenden 
Staatsmann. Nur daß er keine Finanzreform ohne Erbanfallsteuer und 
keine Politik zur „Ausschaltung" des Liberalismus machen will.“ 
„Berliner Tageblatt“: „Wie weit Fürst Bülow den Willen und 
die Kraft hat, den Kampf mit den Konservativen aufzunehmen, das können 
erst die nächsten Tage offenbaren. Indessen hat seine gestrige Rede doch 
gezeigt, daß er noch nicht am Ende seiner Künste ist, und vielleicht war 
Fürst Bülow gegen die Konservativen nur so scharf, weil er sie schon in 
der Tasche zu haben glaubt. Es würde zum mindesten nicht überraschen, 
wenn sich Fürst Bülow auch diesmal, trotzdem er mit seinem Rücktritt 
spielt, als Herr der Situation erweisen sollte.“ 
Die „Germania“ erkennt in der Rede Bülows einen „neuen 
Affront gegen das Zentrum“. 
17. Juni. Trotz der Erklärung des Abg. Bassermann, daß 
die nationalliberale Fraktion des Reichstags geschlossen für die 
Heranziehung der Deszendenten und Ehegatten zur Erbanfallsteuer 
stimmen wird, behauptet die „Deutsche Tageszeitung“, daß ver- 
schiedene nationalliberale Abgeordnete die Besteuerung des Kindes- 
und Gattenerbes ablehnen werden. 
17. Juni. (Reichstag.) Fortsetzung der Debatte über die 
Reichsfinanzreform. 
Graf Westarp (kons.) verteidigt die Stellungnahme der Konser- 
vativen: Abg. Bassermann hat gestern es so dargestellt, als habe der 
Kanzler gesagt, daß er die Reform nur im ganzen mache. Das ist irrig, 
und es ist sehr wohl eine Teilreform denkbar unter Vertagung der direkten 
Steuern auf den Herbst. Wir sind bereit, soweit entgegenzukommen, als 
ess mit den Grundlagen unserer Vorschläge vereinbar ist. (Hallo links.) 
Die gestrigen Verhandlungen haben uns nicht bestärkt in der Hoffnung
	        
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