Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Dentsqe Reiqh und seine einjelnen Glieder. (Juni 17.) 219 
In allen Einzelheiten lassen wir mit uns reden, aber ohne eine aus- 
reichende Heranziehung des mobilen Kapitals können wir uns eine Reichs- 
finanzreform nicht denken. (Beifall rechts.) 
Das Wort nimmt sodann Singer. Er greift den Reichskanzler 
an und bestreitet insbesondere, daß seine Politik von liberalem Geiste erfüllt 
sei. Vollends die Sozialdemokraten würden schlecht behandelt. Sie seien 
nur Objekt, nicht Subjekt der Gesetzgebung. Der Redner kritisiert auch 
die Mogelei hinter den Kulissen, die der Reichskanzler mit den Führern, 
der Schatzsekretär mit der Rumpfkommission getrieben habe. Die 100 Mil- 
lionen auf den Besitz seien nur ein Ornament der Belastung der Masse 
mit 400 Millionen. Die sozialdemokratische Partei müsse darum die Reform 
so, wie sie vorgelegt sei, als Ganzes ablehnen. 
Dr. Spahn (Ztr.) weist darauf hin, daß der Reichskanzler im 
Dezember 1906 den Familiensinn ebenso scharf betont habe wie die Agrarier, 
und daß der preußische Finanzminister v. Rheinbaben damals die Frei- 
lassung der Schenkungen in Elsaß-Lothringen sechs Monate vor dem Tode 
ebenfalls damit gerechtfertigt habe, daß sonst ein unerträgliches Eindringen 
in die intimsten Familienverhältnisse zu gewärtigen sei. Der Redner be- 
chäftigt sich mit der Kotierungssteuer. Sie ist berechtigt als Gegenleistung 
fzee den Schutz und Kurswert, den die Papiere durch die Zulassung zur 
Börse und durch die Börsenordnung, das Börsengesetz erhalten. In Frank- 
reich hat die Steuer, solange sie in angemessener Höhe bestand, völlig 
tadellos gewirkt. Eine rückläufige Bewegung trat erst ein bei ihrer Er- 
höhung. Das beweist nur, daß bei der Bemessung der Steuer der richtige 
Maßstab innegehalten werden muß. Frankreich erzielt aus dieser Steuer 
92 Millionen Franken. Was soll der Hinweis auf den Norddeutschen 
Lloyd? Die Kommission hat doch beschlossen, daß die deutschen Aktien- 
gesellschaften, wenn sie in einem Jahre keine Dividende bezahlt haben, für 
s folngende Jahr von der Steuer befreit bleiben. (Hört, hört! rechts und 
im Zentrum.) Gegen den Feuerversicherungsstempel haben auch wir Be- 
denken, weil von ihm gerade die Landwirtschaft und der Mittelstand be- 
troffen werden. Ueber den Wertpapierstempel läßt sich eher reden. Einer 
Scheckbesteuerung können wir nur zustimmen, wenn sie sich bloß auf die 
größern Schecks erstreckt. Schließlich handelt es sich bei der ganzen Finanz- 
reform nur noch darum, etwa 50 Millionen auf diese oder jene Weise 
aufzubringen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß die Bevölkerung 
möglichst wenig davon bedrückt wird. Dieser Gesichtspunkt muß maß- 
ebend sein. Darum verstehe ich auch nicht, wie man sich auf eine be- 
immte Steuer, wie die Nachlaßsteuer, versteifen kann. Der Bundesrat 
wird schließlich sehen müssen, wie er auch ohne sie auskommt. (Sehr richtig! 
rechts und im Zentrum.) Herr Bassermann hat nun von der Reichstags- 
auflösung gesprochen und von der Schädigung des deutschen Einflusses im 
Auslande. Das Ausland kümmert sich wenig darum, wie wir unsere 
Steuern aufbringen, wenn wir nur unsere Schulden bezahlen. (Zu- 
stimmung rechts und im Zentrum.) Herr Bassermann hat weiter erklärt, 
es dürfte nicht wieder dahin kommen, daß das Zentrum dem Reichstag 
seinen Willen aufoktroyiere. (Hört, hört! im Zentrum.) Wir weisen diese 
Verdächtigung unserer nationalen Gesinnung zurück. In demselben Augen- 
blick aber, wo die Nationalliberalen ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz 
fordern zur Stärkung des Parlaments, verlangen sie, daß der Reichstag 
aufgelöst wird, wenn es nicht nach ihrem Willen geht. (Lebhaftes Hört, 
hört! im Zentrum) Da gilt wieder das Wort: Und der König absolut, 
wenn er unsern Willen tut. (Lebhafte Zustimmung im Zentrum.) Auch 
wir haben den Wunsch, daß die Finanzreform mit möglichst großer Mehr-
	        
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