230 Nas Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 19.—21.)
weshalb von den Konservativen und dem Zentrum die Erbschaftssteuer
abgelehnt wird. Sie, die potentesten aller Steuerzahler, drängen sich, ein
bisher unerhörter Vorgang, der nur in den Zeiten höchster patriotischer
Ekstase ein Vorbild hat, heran und bitten eine Steuer zahlen zu dürfen,
weil sie diese Steuer für gerecht und vernünftig halten. (Lebhafter Beifall
links, große Unruhe rechts, Lärm im Zentrum.) Wenn diese heran-
drängenden Steuerzahler zurückgewiesen werden, dann müßten sie ja mit
Blindheit geschlagen sein, wenn sie sich nicht klar darüber würden, daß
hier nicht sachliche Erwägungen ausschlaggebend sind, sondern daß es sich
um versteckte politische Motive handelt. (Lebhafter Beifall links, großer
Lärm rechts und im Zentrum.) Man kann es diesen Kreisen nicht ver-
denken, wenn sie sich nicht zu Handlangern dieser Politik hergeben wollen.
Aber noch eins: Es freut uns aufrichtig, daß der Glaube im bürgerlichen
Mittelstand geschwunden ist, nur beim agrarischen Großgrundbesitz und
seinen Trabanten seien seine Interessen am besten gewahrt. Der Glaube
ist sehr ernstlich ins Schwanken geraten. (Lebhafter Beifall links.) Was
die Zolltarifverhandlungen nicht fertig gebracht haben, das vollzieht sich
in diesen Kreisen jetzt Schritt für Schritt. (Lebhafter Beifall links.) Die
Unterstützung dieser Kreise wird uns wertvoll sein, wenn es über kurz
oder lang zu der großen Machtprobe kommt (lebhafter Beifall links), vor
welche uns die Konservativen und das Zentrum gestellt haben. Möge
durch die Verweisung der Vorlage an die Finanzkommission nicht viel
eit verloren gehen! Wir sollten wirklich die immer deutlicher werdenden
chlußrufe, die von außen in dieses Haus hereindringen, nicht länger
unbeachtet lassen. (Lebhafter Beifall links.)
Ein Schlußantrag wird angenommen. Für die Ueberweisung der
Ersatzsteuern der Regierung an die Finanzkommission stimmt das ganze Haus.
Es folgt sodann eine lange Geschäftsordnungsdebatte. Ent-
gegen der Tagesordnung, die die zweite Lesung der Regierungsvorlagen
zur Finanzreform, also die Beschlüsse der Rumpfkommission ansetzt, be-
antragt Abgeordneter Singer die Absetzung dieser Steuerbeschlüsse von
der Tagesordnung, und Abgeordneter Bassermann ihre Behandlung
nicht als Kommissionsbeschlüsse (da sie geschäftswidrig zustande gekommen
seien), sondern als Initiativanträge. Der Antrag Singer wird mit großer
Majorität gegen Sozialdemokraten und Freisinnige abgelehnt. Ueber den
Antrag Bassermann, für den die gesamte Linke und die große Mehrheit
der Reichspartei stimmen, bleibt die Abstimmung zweifelhast
Es findet Hammelsprung statt, der die Ablehnung des Antrags
Bassermann mit 186 gegen 116 Stimmen ergibt.
19./20. Juni. Der Kaiser trifft auf der „Hohenzollern“ um
7½ Uhr abends in Neufahrwasser ein, fährt mit Sonderzug nach
Potsdam und reist mit der Kaiserin am 20. Juni früh nach Ham-
burg, wo er sich sofort zum Horner Rennplatz begibt.
21. Juni. (Berlin.) Der frühere Stadtverordnetenvorsteher
Dr. med. Paul Langerhans, ehemals Mitglied des Reichstags
und des preußischen Abgeordnetenhauses, f. 89 Jahre alt.
21. Juni. (Reichstag.) Zweite Lesung der Kotierungssteuer.
Reichsbankpräsident Havenstein: Nachdem die Kotierungssteuer hier
so verteidigt worden ist, sehe ich mich genötigt, vom Gesichtspunkte der
Reichsbank aus, von allgemeinen nationalen, volkswirtschaftlichen Interessen