Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

242 Das Veutsche Reich und seine eintelnen Glieder. (Juni 25. 26.) 
25. Juni. Zur Reichsfinanzreform. 
Wie Wolffs Telegraphisches Bureau erfährt, wurde der konser- 
vativen Fraktion im Auftrage des Reichskanzlers eröffnet, daß die 
Kotierungssteuer, die Mühlenumsatzsteuer und der Kohlen- 
ausfuhrzoll unannehmbar seien, weil sie den Handel und den Verkehr 
schädigen, die Industrie unerträglich belasten und unsere gesamtwirtschaft- 
liche Stellung verschlechtern würden. Die Parfümeriesteuer habe un- 
überwindliche Bedenken gegen sich. Hinsichtlich der Wertzuwachssteuer 
wurde auf die ausführlichen letzten Erklärungen des Reichsschatzsekretärs 
Bezug genommen. 
25.26. Juni. (Lübeck.) Deutscher Aerztetag. 
Es werden Resolutionen angenommen für die Forderung der freien 
Arztwahl, für die Errichtung von obligatorischen paritätischen Vertrags- 
kommissionen und Schiedskammern in jedem Versicherungsbezirke und für 
die Beseitigung aller Ausnahmebestimmungen hinsichtlich des ehrengericht- 
lichen Verfahrens, des Koalitionsrechtes und der Freiwilligkeit der ärzt- 
lichen Hilfeleistung. 
26. Juni. Reichskanzler Fürst Bülow begibt sich zum 
Vortrag beim Kaiser nach Kiel an Bord der Kaiserjacht „Hohen- 
zollern“, wo er fast vier Stunden mit dem Kaiser konferiert. 
26. Juni. (Baden.) Die badischen Städte ersuchen die Re- 
gierung, im Bundesrat gegen die Reichswertzuwachssteuer zu stimmen, 
weil sie selbst eine solche Steuer einführen wollen. 
26. Juni. (Zur Reichsfinanzreform.) Die „Norddeutsche 
Allgemeine Zeitung“ schreibt in ihrem Wochenrückblick: 
„Durch die Annahme der Kotierungssteuer und die Ablehnung der 
Erbschaftssteuer hat die Reichstagsmehrheit nicht nur die politische Grup- 
pierung der Parteien auseinandergesprengt, die seit den Wahlen des 
Januars 1907 bestand und sich für die Führung der Reichsgeschäfte als 
durchaus erfolgreich und nützlich erwiesen hatte, sie hat durch diese Spren- 
gung nicht nur den damals erzielten Erfolg des geschlossenen Auftretens 
der bürgerlichen Parteien gegenüber der Sozialdemokratie illusorisch ge- 
macht, sondern sie hat auch das große Werk der Reichsfinanzreform nach 
langen, schwierigen und mühsamen Verhandlungen kurz vor deren Ab- 
schließung überhaupt in Frage gestellt. Die Regierung muß von der neuen 
Mehrheit den Beweis erwarten, daß sie nach Ablehnung der Erbschafts- 
steuer Reformvorlagen zu bieten vermag, die mit den Grundsätzen der 
Gerechtigkeit vereinbar sind und nicht an die Quellen des Wohlstandes 
des Landes rühren. Die Reichstagsmehrheit wird sich dabei keinem Zweifel 
darüber hingeben dürfen, daß die verbündeten Regierungen niemals Steuern 
annehmen können und werden, welche insbesondere Industrie und Handel 
in ihrem Lebensnerv treffen. Die verbündeten Regierungen werden viel- 
mehr jeden einzelnen der Steuervorschläge auf seine sachliche Berechtigun 
prüfen und werden, falls der Versuch gemacht werden sollte, ihnen dur 
ein Mantelgesetz oder in anderer Form Steuern aufzuzwingen, die sie für 
unannehmbar erklärt haben, eher das gesamte Reformwerk ablehnen, als 
daß sie Vorschlägen ihre Zustimmung gäben, die der deutschen Volks- 
wirtschaft dauernden Schaden bringen müssen.“"
	        
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