268 Das Dentshe Reich und seine einzeluen Glieder. (Juli 10.)
reform in Sicht war, hat beispielsweise der Abgeordnete Erzberger in einer
Rede in Kaiserslautern gesagt: „Wenn wir auch nicht die geforderten 500
Millionen ganz bewilligen, so müssen wir doch wohl einem Betrage von
vielleicht 200 Millionen oder 150 Millionen unsere Zustimmung geben.
(Hört! Hört! links.) Und wenn es wirklich gelingt, auf diese Weise über
die Klippe hinwegzukommen, dann ist das eine große nationale Tat des
Zentrums.“ (Hört! Hört! links.) Mein Freund Paasche hat vor wenigen
Tagen auf eine Wahlbroschüre des Zentrums hingewiesen, die an der Spitze
den Namen des Abgeordneten Erzberger trägt. In dieser Broschüre heißt
es nun: „Wir brauchen mindestens 100 Millionen Mark Steuern. Woher
sollen diese kommen? Das Zentrum hat es bei der großen Reichsfinanz-
reform — damit ist die von 1906 gemeint — erreicht, daß der kleine und
mittlere Mann nicht oder nicht schwer getroffen sind. Es hat auch jetzt
schon erklärt, daß es keinen Pfennig an neuen Steuern bewillige, ehe nicht
die Branntweinsteuer gebessert wird, denn aus dieser stecken jetzt die großen
Brennereien jährlich nahezu 50 Millionen in ihre Tasche (Lebhaftes Hört!
Hört! links), und doch gehören diese Gelder von Rechts wegen dem Reiche!“
Dasselbe Zentrum, in dessen Namen dieses Flugblatt verbreitet worden ist,
hat nicht gezögert, bei der jetzigen Reichsfinanzreform mindestens das
Doppelte dieser Summe zu bewilligen. (Sehr gutl! links.) Es heißt dann
weiter: „Es sind dies „Liebesgaben“" der verschiedensten Art an die oft-
elbischen und andere Großbrenner. Wenn das Zentrum in alter Stärke
wiederkehrt!“ — das ist ja geschehen! — „so ist das Bolk in seinen breiten
Schichten vor neuen Steuern bewahrt.“ (Schallendes Gelächter links. —
Abg. Gröber (Ztr.) begibt sich zum Abg. Erzberger und redet auf ihn ein.)
Das Flugblatt fährt weiter fort: „Ganz anders aber ist es, wenn der Anti-
Zentrumsblock siegt“ — nun kommt etwas, worauf ich die Aufmerksamkeit
der Konservativen lenken möchte —: „Die Konservativen haben es schon
im Frühjahr 1906 versucht, auf Bier und Tabak hohe Steuern zu legen.
Die Nationalliberalen haben es offen erklärt, daß es das Zentrum gewesen
sei, das eine höhere Besteuerung dieser Artikel verhindert habe. Wenn
also die Gegner des Zentrums siegen, dann folgt eine ungeheure Erhöhung
der indirekten Steuern."“ (Schallendes Gelächter.) Dann heißt es weiter:
„Der Wähler hat also darüber zu entscheiden, ob er das will oder nicht.“
Und der Schluß lautet: „Das Zentrum kämpft für eine gesunde Finanz-
politik. Wir sind gegen die Schuldenwirtschaft. Das Zentrum ist für den
Kchuß der unteren und mittleren Volksschichten.“ (Stürmisches Gelächter
links.) Und der letzte Satz: „Wir sind gegen die Erhöhung der indirekten
Steuern!“ Das ist ein offizielles Flugblatt. Sie können es nicht von Ihren
Rockschößen abschütteln, denn es ist erschienen im Verlage der „Germania“
(Berlin). (Hört! Hört! links.) Wenn das kein offizielles Flugblatt ist,
dann gibt es überhaupt keine mehr. Das Zentrum hat ja auch von Be-
inn dieser Beratung an zögernd beiseite gestanden, bis es endlich die Stelle
fand, wo es in die Mitarbeit eintreten konnte mit dem Endzweck, den
bisherigen Block zu sprengen und den Reichskanzler zu stürzen. (Unruhe
im Zentrum.) Es ist nun hinlänglich festgestellt, daß führende Persönlich-
keiten der Zentrumspartei sich für die Erbanfallsteuer erklärt haben. Und
daraus ergibt sich unwiderleglich, daß für die Haltung des Zentrums gegen
diese Steuer im Rahmen dieser Finanzreform nicht sachliche, finanzielle,
sondern taktische Erwägungen den Ausshlag gaben. Herr v. Heydebrand
hat heute das Zusammengehen auch mit der polnischen Reichstagsfraktion
als eine sehr harmlose Sache hingestellt, die aus rein objektiven Gründen
heraus sich eben so entwickelt habe. Ich habe auch hier keinen Grund,
einen Zweifel in die Erklärungen der konservativen Partei zu setzen, aber