Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

276 Das Denische Reith und seine einzelnen Slieder. (Juli 10.) 
kämpfen und auch nicht ein Tüttelchen an dem geltenden Wahlrecht ge- 
ändert wissen wollen. Dem gegenüber muß ich erneut betonen, daß wir 
nach wie vor die Reform des preußischen Wahlrechts für eine gründliche 
Forderung der Zeit erachten und daß wir die Hoffnung hegen, daß die 
Zusicherungen in der preußischen Thronrede möglichst bald Verwirklichung 
finden. Der Widerstand der Konservativen gegen eine Aenderung des 
Wahlsystems und gegen die Beseitigung der beßichenden ungerechten Wahl- 
kreiseinteilung muß gebrochen werden, wenn wir vorwärts kommen wollen 
in der politischen Entwickelung. Herr v. Heydebrand hat an den Fürsten 
Bismarck erinnert. Ich kann mit einem Urteil über die Konservativen 
von dem Fürsten Bismarck aufwarten, der doch seine Pappenheimer kannte: 
„Die Herren von der Kreuzzeitungs-Farbe haben mir das ministerielle Leben 
recht sauer gemacht. Ich war nie ihr Mann, und die schlimmsten Ver- 
dächtigungen sind immer von dieser Seite gekommen. Sie ließen mich 
im Stich, als es darauf ankam, zunächst einmal das Deutsche Reich vor 
der Welt auf die Beine zu stellen. Manches wäre anders geworden, wenn 
ich konservative Hilfe gefunden hätte. Ich hätte noch viel eher mit Herrn 
Richter paktiert als mit Nathusius, Ludom und Genossen.“ Auch heute 
haben die Konservativen den Reichskanzler im Stich gelassen, als es darauf 
ankam, das Deutsche Reich finanziell sicher auf die Beine zu stellen. Ich 
bin überzeugt, daß Herr v. Heydebrand nach seinen heutigen Ausführungen 
und nach der Wirksamkeit, die wir schon längst kennen, in den Monaten, 
die hinter uns liegen, vor der Geschichte in dem gleichen Lichte erscheinen 
wird, wie hier Fürst Bismarck über die Konservativen urteilt. Die Konser- 
vativen sind die Träger der Politik des Bundes der Landwirte, der ledig- 
lich einseitig agrarische Interessen bei diesen großen Fragen in den Vorder- 
grund geschoben hat. Diese Art von einseitiger Sonderpolitik bei der 
Reichsfinanzreform wird man dereinst auf das schärfste beurteilen. Diese 
Politik hat zur Folge gehabt, daß das Zentrum wieder in die ausschlag- 
gebende Stellung eingerückt ist. Frhr. v. Hertling hat zwar die Situation 
als möglichst harmlos zu schildern sich bemüht und hat davon gesprochen, 
es sei eine Legende, als ob das Zentrum jemals hier eine Vorherrschaft 
ausgeübt habe. Ihm sei es niemals klar gewesen, warum eigentlich der 
Reichstag aufgelöst worden ist. Wenn er der Rede seines Bundesbruders, 
des Abgeordneten v. Heydebrand, aufmerksam gefolgt wäre, so hätte er 
die Antwort schon vorher gehört. Herr v. Heydebrand hat ausdrücklich 
ausgesprochen, daß der Reichstag aufgelöst sei, um die Vorherrschaft 
des Zentrums zu brechen. Nur ist die Frage, ob es von den Konser- 
vativen jetzt richtig ist, wenn sie dazu beitragen, diese Vorherrschaft 
wieder aufzurichten. Dem Abgeordneten v. Heydebrand und seinen 
Freunden scheinen allerdings die Konsequenzen dieser Politik nicht sonder- 
lich angenehm zu sein. Es trat bei ihm das Bemühen zutage, eine 
gewisse Scheidelinie zu ziehen. Er war auch so gütig auszusprechen, 
die Konservativen seien ja nach wie vor bereit, auch mit anderen Parteien 
zusammenzuarbeiten auf der Basis der Gleichberechtigung. Ach, wenn die 
Konservativen von der Gleichberechtigung sprechen, insonderheit mit Bezug 
auf den Liberalismus, so wissen wir, was wir davon zu halten haben. 
Aber diese Ausführungen des Herrn v. Heydebrand setzten die Möglichkeit 
voraus, daß auch einmal wieder eine andere Konstellation eintreten könne, 
wo die Konservativen nicht mit dem Zentrum, sondern mit den Liberalen 
gehen. Die Möglichkeit einer solchen Kombination würde aber doch davon 
abhängen, daß die liberalen Parteien sich dazu hergeben, ein Spiel mit 
doppelten Mehrheiten zu ermöglichen. Was meine politischen Freunde 
anbelangt, so möchte ich glauben, daß die Voraussetzungen für ein solches
	        
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