Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

Das Perisqe Reiq und seine einzelnen Glieder. (Dezember 1.) 347 
den Beitritt Italiens zum Dreibund erweiterte Allianz beider Mächte ins 
Leben trat. Ich hege das Vertrauen, daß das Zusammenhalten der drei 
verbündeten Reiche auch ferner seine Kraft für die Wohlfahrt ihrer Völker 
und die Erhaltung des Friedens bewähren wird. Und nun, geehrte Herren, 
wünsche Ich Ihren Arbeiten gedeihlichen Erfolg zum Heile des Reiches. 
1. Dezember. (Reichstag.) Präfidentenwahl. 
Mit 256 Stimmen bei 96 Stimmenenthaltungen wird der konser- 
vative Graf Stolberg zum Präsidenten, mit 239 Stimmer bei 104 Stim- 
menenthaltungen der Zentrumsabgeordnete Dr. Spahn zum ersten Bize- 
präsidenten gewählt. Bei der Wahl des zweiten Vizepräsidenten wählte 
der schwarz-blaue Block den nationalliberalen Abgeordneten Dr. Paasche. 
Dieser erklärte, er lehne im Einverständnis mit seinen politischen Freunden 
die Wahl ab. Die Wahl des zweiten Vizepräsidenten wird vertagt. 
1. Dezember. Ueber den Charakter der Zentrumspartei wird 
folgende parteiamtliche Kundgebung veröffentlicht: 
Der Vorstand der Fraktion des Zentrums im Reichstag, der Vor- 
stand der Fraktion des Zentrums im preußischen Abgeordnetenhaus und 
der Landesausschuß der preußischen Zentrumspartei haben am 28. No- 
vember 1909 in Berlin im Fraktionszimmer des Zentrums im Reichs- 
tagsgebäude eine gemeinschaftliche Sitzung abgehalten. Nach eingehender 
Aussprache gab der Abg. Roeren die Erklärung ab: „Weil die Definition 
des Charakters des Zeutrums im Satz 1 der Beschlüsse der sog. Oster- 
dienstags-Konferenz zu Mißdeutungen Anlaß gegeben hat, trete ich auf 
den Boden der in der heutigen Versammlung vorgeschlagenen Erklärung 
über den Charakter des Zentrums.“ Darauf wurde die nachstehende Er- 
klärung einstimmig angenommen und deren Veröffentlichung beschlossen: 
Die vereinigten Vorstände der beiden Zentrumsfraktionen des Reichs- 
tages und des preußischen Abgeordnetenhauses sowie der Landesausschuß 
der preußischen Zentrumspartei sind der Meinung, daß es gegenüber den 
fortgesetzten Mißdeutungen des Charakters der! Zentrumspartei genügen 
könne, auf das seit 1871 unverändert bestehende Programm und die fast 
vierzigjährige Tätigkeit des Zentrums zu verweisen. Sie glauben gleich- 
wohl folgendes erklären zu sollen: Die Zentrumspartei ist grundsätzlich 
eine politische, nichtkonfesseonelle Paxtei; sie steht auf dem Boden der Ver- 
fassung des Deutschen Reiches, welche von den Abgeordneten fordert, sich 
als Bertreter des gesamten deutschen Volkes zu betrachten. Darum erstrebt 
die Zentrumspartei den Schutz und die volle Gleichberechtigung aller Staats- 
bürger, deren Interessen sie in steter Rücksicht auf die Wohlfahrt des 
Ganzen und auf das Gedeihen aller Klassen zu vertreten sucht. Schon 
das Programm der Zentrumsfraktion des Reichstags von Ende März 1871 
verlangt unter Ziffer 2: „Für die bürgerliche und religiöse Freiheit aller 
Angehörigen des Reichs ist die verfassungsmäßige Feststellung von Ga- 
rantien zu erstreben und insbesondere das Recht der Religionsgesellschaften 
egen Eingriffe der Gesetzgebung zu schützen.“ Mit diesem grundsätzlichen 
harakter steht keineswegs im Widerspruch, daß die Zentrumspartei in den 
langen Jahren des Kulturkampfes die Abwehr der gegen den katholischen 
Bolksteil gerichteten Maßnahmen auf dem Gebiete der Gesetzgebung und 
Berwaltung als erste und dringendste Aufgabe betrachten mußte, und daß 
es auch heute noch eine ihrer vornehmsten Pflichten ist, die staatsbürgerliche 
Gleichberechtigung der katholischen Minderheit zu wahren. Auch in der 
Erfüllung dieser Pflicht hat die Zentrumspartei niemals den Charakter 
einer politischen Partei verleugnet, welche auf den rechtlichen Grundlagen
	        
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