352 HNas Venuische Reich und seine einzeluen Glieder. (Dezember 9.)
Interesse verloren hätten, in dem Augenblick, wo wir praktisch an ihre
Lösung herantreten. (Sehr richtig! rechts und im Zentrum.)
Ich verschließe meine Augen nicht vor der parteipolitischen Er-
regung, die das Land durchzieht. Aber ich bin doch der Ansicht, daß es
weite Kreise gibt, denen es nicht darum zu tun ist, nur mit einer ganz
scharf gewürzten Kost, womöglich mit grundstürzenden Aenderungen ge-
nährt zu werden, daß es weite Kreise unseres Volkes gibt, die auf die
Dauer nicht von der politischen Sensation und nicht von der Verärgerun
leben wollen. Was das Volk in erster Linie verlangt, das ist doch, daß
es in seiner werktätigen Arbeit, mag diese wirtschaftlicher oder kultureller
Natur sein, hier oder draußen auf dem Weltmarkt nicht durch Unruhe
oder Experimente gestört wird, sondern es will durch eine Politik der
Stetigkeit und Festigkeit im Innern und nach außen gestützt und gefördert
werden. Glaubt man denn nun wirklich, daß dieses Verlangen, das die
Vielgestaltigkeit der Bedürfnisse unseres Volkes, die sich nach der Eigenart
der einzelnen Volksstämme je nach der Verschiedenheit der wirtschaftlichen
Vorbedingungen im Süden und Norden, im Osten und Westen unseres
Vaterlandes in ganz verschiedenen politischen Nüancierungen äußert, glaubt
man denn, daß dieses Verlangen erfüllt werden kann, wenn auch nur
diese Gesetzesvorlagen unter das eine Schema gestellt werden, das nichts
anderes kennt als die Schlagworte Radikalismus und Reaktion? Jede
gesunde Entwickelung, jeder vernünftige Fortschritt wäre dann unmöglich:
Gewiß, zu dem Leben einer jeden Nation gehört der politische Kampf.
Aber keine Nation verträgt es auf die Dauer, durch sensationell zugespitzte
parteipolitische Streitigkeiten in Atem gehalten zu werden. Das muß am
letzten Ende dem Volk jedes staatliche beben, jedes Vertrauen im Innern.
und das Ansehen nach außen hin töten. Und dazu sind unsere Zeiten nicht
angetan. Wir können uns nicht den Luxus gestatten, uns bei Vergangenem
aufzuhalten oder untätig zu sein. Wer da weiß, wie Deutschland seine
Stellung in nüchterner Arbeit erworben hat, die es auch nur in solcher
Arbeit behalten kann, und wie in Deutschland niemals eine einzelne Partei
es gewesen ist, die der deutschen Politik das Gepräge gegeben hat, sondern
wie alle Kräfte des Volkes mitgewirkt haben, so muß es auch in Zukunft
bleiben. Darin spricht sich nicht der in den letzten Wochen so viel be-
spöttelte Ruf nach positiver Mitarbeit aus oder gar ängstliche Sorge um
die Schaffung einer parlamentarischen Majorität Nein, meine Herren,
nicht das, aber die Ueberzeugung, daß es einen Zwang zum Schaffen gibt,
den die Volksgemeinschaft jedem ihrer Glieder auferlegt und die Gewißheit,
daß dieser Zwang auch die gegenwärtigen Irrungen und Wirrungen über-
dauern wird. (Lebhafter Beifall rechts.)
Schatzsekretär Wermuth: Ich lege Ihnen gleichzeitig einen Nach-
tragsetat für 1909 und den Hauptetat für 1910 vor. Vielleicht
darf ich bitten, den Nachtragsetat wenn tunlich, noch vor Weihnachten zur
Abfertigung zu bringen. Dafür sprechen ganz wesentlich finanztechnische
Rücksichten. Daß aber der Nachtragsetat und der Hauptetat in der
Diskussion verbunden werden, kann ich lebhaft begrüßen. Sie hängen
eng zusammen, sie sind ein Januskopf, von dem das eine Gesicht durchaus in
die Vergangenheit gerichtet ist, während das andere in die neue Finanzperiode
hineinsieht. Der Nachtragsetat bringt Ihnen fast lauter gute Bekannte,
denn er beruht auf § 2 des Finanzgesetzes und den Besoldungegesetzen.
Aber er enthält gleichzeitig ein sehr ernststimmendes Fazit über die ge-
samte finanzielle Entwickelung einer geraumen Reihe von Jahren
Er liquidiert die Beträge an Besoldungen, die für 1909 zu zahlen waren,
mit 90 Millionen und die Nachzahlungen an Besoldungen mit 60 Millionen,