Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

24 Das Denisqhe RKeich und seine rintelnen Glieder. (Januar 20.) 
der Gemeinde ist seitens der Staatsbureaukratie absolut nichts geschehen. 
Jeder junge Regierungsassessor und jeder Landrat fühlt sich turmhoch er- 
haben über den Beamten und im Ehrendienst tätigen Bürger der Kom- 
mune. Das were ausgeschlossen, wenn diese jungen Herren nicht wüßten, 
daß am offiziellen Tische genau dieselbe Gesinnung auch bei den Spitzen 
der Regierung maßgebend ist. Auf Grund eines Gesetzes, das für dörf- 
liche Verhältnisse passen mag, aber für eine Millionenstadt wie die Faust 
aufs Auge paßt, gewährt man einer Erwerbsgesellschaft auf dreißig Jahre 
Konzession für Unternehmen und verleiht damit dieser Gesellschaft eine 
furchibare Waffe. Ob die Gemeinden auf Grund alter ausgegrabener 
Institutionen gehindert werden, ihre Einrichtungen so aufzubauen, wie sie 
für Recht halten, ob die Staatsbehörden es für dringend notwendig halten, 
Eingemeindungsbestrebungen einen Riegel vorzuschieben, um die wirtschaft- 
liche Einheit nach dem Grundsatz divide et impera zu trennen, ob auch 
der König von Preußen einer Gemeinde erklärt, daß die Waldungen er- 
halten bleiben sollen, während die Staatsbehörden es dahin kriegen werden, 
daß man bald den letzten Baum als Seltenheit anstaunt überall ist 
es das gleiche Leitmotiv, der Haß gegen die Selbstverwaltungskörper, 
denn es könnte sich doch einmal eine der staatlich approbierten Auffassung 
entgegenstehende Meinung durchsetzen. Wenn derartiges am grünen Holz, 
am Sitze der Regierung geschieht, kann man sich ausmalen, was den 
kleinen Gemeinden von den Landräten geboten wird. Die Selbstver- 
waltungskörper in den Kreisen sind nicht einmal Zerrbilder der Selbst- 
verwaltung, sie sind weiter nichts als Kulissen, hinter denen der Landrat 
sitzt und Drähte zieht. (Lachen rechts.) 
Der Reichskanzler hat kürzlich mit gönnerhaftem Wohlwollen von 
der türkischen Verfassung gesprochen. Aber diese hat zwei Bestimmungen, 
die geheime Wahl und die, daß aktive Beamte nicht Mitglieder gesetz- 
gebender Körperschaften sein dürfen. Auf Grund der letzten Bestimmung 
allein würden nach meiner Berechnung 94 Mitglieder dieses Hauses ihre 
Mandate niederzulegen haben. Noch in umfänglicherer Weise sind die 
Provinziallandtage mit Beamten besetzt. Im Rheinlande sollen von 176 
sogar 42 Landräte sein. 1901 erschien ein Wohnungserlaß zur Beseitigung 
der Wohnungsmisere. Er machte den Versuch, einen fanften, leisen Druck 
auf die Gemeinden auszuüben. Dieser Erlaß hat den Zorn der Groß- 
grundbesitzer erregt. Dem Finanzminister wurde der Vorwurf gemacht, 
daß er die Grundsätze der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung 
untergraben wolle. Drei Jahre später hat die Regierung in den Zeitungen, 
nicht vorm Hause, einen Entwurf veröffentlicht. Dieser Entwurf beschäftigt 
sich aber nur mit den Wohnungsverhältuissen der großen Städte. Lieber 
läßt die Staatsregierung Wohnungsmiseren Wohnungsmiseren sein, als 
daß sie sich den Grundbesitzern entgegenzustellen wagt. Aber was man 
auch tut, es gereicht der Sozialdemokratie zum Vorteil. Die Schul- 
verwaltung geht mit Rücksichtslosigkeit und Energie ohnegleichen gegen 
jeden Lehrer vor, der irgendeine Regung von Selbständigkeit zeigt, trotz- 
dem der Ministerpräsident gestern erklärt hat, daß kein Lehrer oder Be- 
amter wegen Betätigung einer freisinnigen Gesinnung gemaßregelt werden 
soll. Die Landflucht der Arbeiter werden Sie durch Zwangsmaßregeln. 
nicht aufhalten. 
So kurze Zeit wir in diesem Hause sind, so haben wir doch wieder- 
holt erlebt, wie sich die Parteien über feierliche Erklärungen der Staats- 
regierung hinwegsetzen. Die Minister sind Fleisch von Ihrem Fleisch. 
Sollte irgendein Minister einen Versuch machen, Steuern einzubringen, 
die den Herren von der Rechten nicht genehm sind, so wissen Sie das,
	        
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